Donnerstag, 02.06.2005 | Sauna-Stimmung in Aquarenien

53,96 % Besuchersteigerung in einem Jahr (2004) – ein stolzer Erfolg für die exklusive Re-laxabteilung des Frei- und Hallenbades Acquarena in Brixen. Wer saunt dort wann und wie? Eine ironische Betrachtung der schwitzenden Nackedeis.

Noch in den sechziger Jahren herrschte in der Bischofsstadt Brixen züchtig Sitte und Ord-nung. Lang- oder kurzbeinige Minirockträgerinnen liefen in Gefahr nicht nur angepfiffen son-dern auch aufgegriffen zu werden. Tschador oder Stadtverbot war hier fast die Frage. Dann wurde der Bischofssitz nach Bozen verlegt und schon machte sich eine bedenkliche Locke-rung der Sitten in der ältesten moralisch hochstehenden Stadt Südtirols bemerkbar. Nicht nur dass die Rocksäume durch den Einfluss der Mode ungestraft das Knie hinauf und dann wie-der hinunter wandern konnten – nein, unter dem Deckmantel von Sport und Wellness wur-den Einrichtungen eingeführt, die bislang den schwerblütigeren und kühleren Menschen des Nordens vorbehalten schienen. Darunter sind vor allem Sauna, Dampf- und Schwitzbäder zu nennen, die ihre wohltuende Wirkung nur dann entfalten können, wenn die Teilnehmer bereit sind die Hüllen ungeniert fallen zu lassen um alle Poren freudig schwitzend zu öffnen. Deut-sche Nordlandreisende brachten die Erfahrung mit, dass in Finnland sich Zunge und Herzen erst in der Sauna am Abend öffnen, dass dort wichtige Geschäftsabschlüsse, die Beilegung von Streitigkeiten und alle bedeutenden Anbahnungen entgültig zustande kommen. Die Sauna hat in Finnland die gleiche soziale Funktion wie in Italien eine ausgedehnte Tafelei in einem gepflegten Restaurant an deren Ende bei Espresso und Grappa Handelseinigkeit er-zielt wird.
Natürlich stand bei den deutschen Nordlandexperten die Gesundheit an erster Stelle, weni-ger das gemeinsame, nur handtuchumschlungene Würstchenbraten mit Wodka am Kamin der Saunahütte. Das gleiche gilt für ihre Einstellung zum italienischen Essen – lieber Ge-sundheit als Genuss. Mit dem Gesundheitsargument als Ergänzung ihrer weinseligen Wan-derungen in Südtirol bestürmten die deutschen Urlauber solange ihre Südtiroler Gastgeber, bis auch die letzte Pension dort ihre Sauna hatte. Bevor die letzte große Wellness-Welle die Südtiroler Hoteliers heimsuchte und ihnen enorme Investitions- und Unterhaltskosten abver-langte, führten die meisten Saunaanlagen in düsteren Kellern der Beherbergungsanlagen ein ungemütliches, meist braun verfliestes Schattendasein. Die vermehrt nach Südtirol strömen-den italienischen Gäste waren jedenfalls kaum zu bewegen dieser deutschen Gesundheits-manie etwas abzugewinnen. Neue, frisch designte und attraktive Anlagen mussten her. In den neuem Hotelanlagen täuschten sie nun meist neben der Tiefgarage im säulenverzierten tirolerisch-römischen Thermenstil mit neckischen Wand- und Deckengemälden ein illusionis-tisches Arkadien vor.
Ganz anders jedoch die Stadt Brixen. Sie ließ durch den Architekten Ralf Dejaco ein archi-tektonisch weithin anerkanntes und preisgekröntes Hallenbad errichten, dessen elegant-moderne Saunalandschaft ihresgleichen sucht - nicht nur in Südtirol sondern weit darüber hinaus. Viele Gäste meinen sogar, dass dies die schönste Saunaanlage sei, die sie jemals zum schwitzen brachte. Anfangs begann der Besucherstrom nur tröpfelnd. Viele Brixner wa-ren offenbar noch moralisch gehemmt, ihre Lichtgestalten unbekleidet neugierigen Blicken oder gar Voyeuren darzubieten. Es wurde genau nach Anweisung gesaunt: Einseifen unter der Reinigungsdusche, Abtrocknen, Saunagang, Durchatmen und Abkühlen auf der Terras-se, Duschen, Ruhen. Man huschte scheu von Handtüchern umhüllt von der Heusauna ins türkische Dampfbad, ließ sich in der dunkelsten Ecke der finnischen Sauna nieder und schlüpfte verstohlen ins Sprudelwasser des Whirlpools. Es wurde nur geflüstert, die Stim-mung war andächtig bis sakral, man sah geflissentlich aneinander vorbei, Männer vermieden es Frauen anzulächeln und umgekehrt. Wenn es irgendeinen Hauch von erotischer Span-nung gab, dann allerhöchstens bei den vollbusigen Nacktfröschen auf den Fotos in der BILD-Zeitung, die auf dem Zeitungstisch auflag und in die sich manche Herren leicht frustriert ver-tieften.
Aber die Stimmung änderte sich mit wachsendem Andrang. Örtliche Hoteliers versahen ihre Gäste mit Freikarten – wenn sie noch keine teure Wellnessanlage hatten, konnten sie diese damit einsparen und atmeten auf. In ganz Südtirol, in Nordtirol, im Trentino und bis ins Vene-to sprach sich herum, welch fabelhafte Saunalandschaft in Brixen entstanden war. Neugieri-ge reisten zum Probesaunen an. Meist waren es auch Neusauner, vor allem wenn sie aus Italien kamen. Sie lasen die ausgehängten Anleitungen zum richtigen Saunen nicht und ver-hielten sich entsprechend unprofessionell. Dafür sprachen sie umso mehr und mit der Ruhe war es aus. So wie die deutschen Besucher ihre nackte Unsicherheit in Bademänteln und Handtüchern verhüllten, so hüllten sich die zunächst ausschließlich männlichen Italiener in Wortschwalle, deren ununterbrochenes Geplätscher den ruhig vor sich hindämmernden Deutsch-Schwitzern gewaltig auf die Nerven gingen.
Sie holten deshalb zum Gegenschlag aus und führten den Aufguss ein. Nicht etwa den mil-den finnischen Aufguss am Ende eines jeden Saunaganges, der durch die wenigen Sekun-den würziger Dampfentwicklung die Temperatur kurz ansteigen lässt und den Insassen den ultimativen Schweißausbruch vor dem Verlassen der Sauna beschert. Nein, es war die bru-tale Tiroler-Macho-Aufgußversion. Eine Art Kampfaufguss, die denjenigen moralisch vernich-tet, der die in einen Dampfdruckkessel verwandelte Sauna unter dem Gehöhne der ganz harten Kerle vorzeitig und nach Luft schnappend verlässt. Der Kampfaufguss dauert etwa 15 Minuten und wird von einem Aufgusseinpeitscher durchgeführt, der nach einleitenden Wor-ten zum richtigen Saunen, Duschen und Ruhen ein absolutes Verbot zum vorzeitigen Ab-bruch des Aufgusses ausspricht und sich danach durch lebhaftes Handtuchschwenken in eine Mischung aus Torero und Hubschrauber verwandelt. Mitten in das Geächze der vom heißen Dampf in Verbrennungsgraden Betroffenen wirft er abkühlende Eisbrocken, die sich die Beteiligten auf die bereits blasenwerfenden Brüste und Stirnen reiben. Ein Masochismus von dem man sich das Fernbleiben jener laienhaften Saunaamateure versprach, die sowieso vor dem Saunen nicht duschen und nach dem Schwitzen ungeduscht ins Abkühlbecken tau-chen. Bisweilen erschienen italienische Erstmals-Sauner zusammen mit ihren völlig ver-schreckten Freundinnen in Badeanzügen und verließen auf Anweisung des Bademeisters fluchtartig die sie offenbar total schockierende Nacktheit der Teutonen. Die Mehrzahl aber kam mit weiteren Neugierigen immer wieder, zusammen mit einer steigenden Anzahl von weiblichen Begleiterinnen, vor denen man beim harten Kampfaufguss sogar „bella figura“ machen konnte.
Der Personen- und Lärmpegel stieg unaufhaltsam. Der Whirlpool fing an das Spiel- und Planschbecken verliebter Pärchen zu werden, die bisweilen vor Überfüllung oder Zuneigung so nah zusammenrückten, dass wiederum der Bademeister trennend einschreiten musste. Sogar die im Obergeschoss etwas abgelegenen und zum Tiefschlaf einladenden Wasserbet-ten mussten nun häufiger kontrolliert werden. Die Freizügigkeit mittelalterlicher Badestuben schien interethnisch zurückzukehren. Nur die Voyeure, meist Einzelgänger, kamen nicht auf ihre Kosten. Die Kleidermode hat nämlich durchaus einen ästhetischen Sinn: Gnädig ver-deckt sie körperliche Unvollkommenheiten vom Schmerbauch bis zu Reiterhosenschenkeln mit Orangenhaut. Auch Umfang und Schwerkraftresistenz von Busen halten im bloßen Zu-stand nicht immer das, was sie in klug ausgewogenen Ausschnitten zu versprechen schei-nen. Insgesamt bietet der splitternackte, verschwitzte, zerzauste und von Hitze gerötete Mensch nicht den möglicherweise erwarteten aufregend-erotischen Anblick. Ganz im Gegen-teil. Ältere Ehepaare muss man bewundern, dass sie trotz aller äußeren Unvollkommenhei-ten zusammengeblieben sind – es muß sie wohl noch etwas anderes, Unsichtbares, verbin-den. Jüngere Paare erscheinen in wechselnden Kombinationen. Hier wird wohl versucht, die Katze nicht im Sack zu kaufen und Entscheidungen werden erst nach akzeptierter Ganzkör-perprüfung getroffen.
Die Saunalandschaft des Brixner Acquarena ist nach den ersten Anlaufjahren zu einer er-folgreichen gesellschaftlichen Institution geworden. Man trifft Nachbarn und Bekannte ohne weiter mit der Wimper zu zucken, nimmt locker Kenntnis vom jeweiligen Körperbau und plauscht launig bei einem Gläschen Karottensaft. Brixner Geschäftsleute geben in gelöster Atmosphäre bei 90 Grad Celsius laut und verständlich intime Finanzpraktiken preis, ihre üb-rigen Mitteilungen könnten leicht die Lektüre von Autozeitschriften ersetzen. Damengruppen unterhalten sich weithin hörbar und kichernd über die Vor- und Nachteile ihrer Lebensab-schnittspartner, Friseure oder Ärzte. An manchen Sonntagen sind bereits ab 10 Uhr morgens die Liegen auf der Terrasse von Sonnenhungrigen überfüllt, die sich ebenfalls schweißtrei-bend in der Sonne braten. Gegen Melanome und Sonnenbrand überziehen sie sich mit le-ckeren Soßen teurer Kosmetikmarken, deren Geruchsmischungen schon einmal betäubend wirken können. Bis der Garpunkt erreicht ist, verteidigen sie hartnäckig ihre Liegen und ris-kieren manchmal einen verstohlenen Blick auf benachbarte Haxen, Lenden- oder Rippenstü-cke. Kurzum, es ist voll geworden im Saunaland. Ein Riesenerfolg! – jubelt der Direktor der Stadtwerke. Sicher. Glückwunsch. Dennoch. Dauerbesucher der ersten Stunde und andere ernsthafte Saunagänger überlegen bereits ernsthaft, ob sie reumütig in irgendeine braunge-flieste Kellersauna zurückkehren sollen, um dort in aller Ruhe, ohne Trubel und ohne den Laufsteg neuer, tiefergelegter Haarschnitte ab und zu einfach nur gesund und friedlich vor sich hinzuschwitzen.

Andreas Gottlieb Hempel
(1309 Wörter / 9820 Zeichen mit Zwischenräumen)



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
Otto von Guggenberg Str. 46   I-39042 Brixen (BZ)   Italien
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