Freitag, 21.10.2005 | Bauwut oder Baukultur

Referat von Prof. Dipl.-Ing. Andreas Gottlieb Hempel, Brixen
Vortrag am Beispiel Pustertal, Innichen, 21. September 2005

Einführung

Im vergangenen Jahrzehnt wurde soviel in Südtirol gebaut wie nie zuvor. Unbehagen über den Verlust an Baukultur, Verlust an Kulturlandschaft, verschandelte Ortsbilder, Abbruch schöner alter Bauten, Zersiedelung, ungehemmtes Renditedenken und überbordender Ver-kehr macht sich allerorten bemerkbar.

Das Land und die Kommunen müssen reagieren. Mit Verboten und Geboten über gesetzli-che Maßnahmen allein sind die Probleme nicht mehr zu bewältigen. Ein politisch initiiertes Umdenken aller am Planen und Bauen Beteiligten ist erforderlich. In der breiten Öffentlich keit und in den Medien ist bereits seit längerem Unruhe über diese Entwicklung zu spüren. Dieses Referat ist ein Plädoyer für die Entwicklung einer umfassenden Architekturpolitik für Südtirol.

Da der Vortrag in Innichen gehalten wird, möchte ich meine Gedanken anhand von Bildern einer Fahrt durch das Pustertal und eines Spazierganges durch Innichen in der vergangenen Woche erläutern

Teil 1 – Zur Situation Südtirols

Südtirol als Region im Herzen Europas

Im Römischen Reich, im Mittelalter und in der Neuzeit war Südtirol immer Drehscheibe für die Verbindungen zwischen dem Mittelmeerraum und Nordeuropa. Krieger, Kaiser, Kaufleu-te, Künstler und Pilger durchzogen Tirol und hinterließen nicht nur ihre Spuren in Handel, Kunst und Geschichte sondern auch bei den Bewohnern. Offenheit für die Fremden und Gastfreundschaft. Zusammen mit der Schönheit des Landes gute Vorraussetzungen für den vielfältigen Austausch von Ideen und Produkten und für den Tourismus.

In kaum einer anderen europäischen Region ist eine solche Vielfalt an Naturschönheiten und vom Menschen geschaffener Kultur der Landschaft, der Orte und der Kunstwerke zu finden. Über wenig andere Regionen gibt es so viele Bücher mit Beschreibungen dieser Fülle an Sehenswürdigkeiten. Dazu kommt die Bevorzugung durch das Klima der Alpensüdseite so-wie der Fleiß und die Freundlichkeit der Bewohner, die sich mit Wein- und Obstbau, kleintei-ligem Gewerbe und Tourismus im Rahmen einer Autonomie mit vielen Privilegien einen in der Europäischen Union herausragenden Wohlstand geschaffen haben – ein kleines Para-dies!

Der beschränkte Raum in Südtirol

Zwar leben in Südtirol nur 64 Einwohner auf dem Quadratkilometer – aber die Zahl täuscht über die wahren Verhältnisse. Nur sechs Prozent des Landes ist bewohnbar (nach ASTAT ). Es sind im Wesentlichen die Talböden und einige Hochflächen. So kommen doch in den Siedlungsbereichen fast 770 Einwohner auf einen Quadratkilometer – eine bereits städtische Dichte.

Ähnlich bestellt ist es mit den klimatisch begünstigten Anbauflächen für Wein und Obst, einer geradezu sprichwörtlichen Kulturlandschaft, die einen sorgfältigen Balanceakt zwischen Nut-zen und Pflege erfordert. Ab 700 Höhenmeter ist damit in der Regel Schluss. Darüber be-ginnt eine Naturlandschaft, eine Gebirgslandschaft, die bis zur Baumgrenze für Holzwirt-schaft, Weiden und Almen mit Einzelhöfen geeignet ist und dort in gewisser Weise auch als Kulturlandschaft bezeichnet werden kann. Noch höher bietet Südtirol zwar eine eindrucksvol-le aber zum Leben ungeeignete Hochgebirgslandschaft.

Das bedeutet, sich in der kleinen Region auf noch kleinerem Raum einzurichten und mit den beschränkten Flächen äusserst vorsichtig umzugehen. Den knappen zur Verfügung stehen-den Platz machen sich heute Landwirtschaft, Gewerbe, Verkehr und Urbanisierung streitig. Hier ist eine restriktive Raumordnung und sensible Planung erforderlich um das Paradies nicht zu verwüsten.

Die Tradition der Baukultur in Südtirol

Die älteste Stadt Südtirols, Brixen, ist über tausend Jahre alt. Aber schon die Kelten, Römer und Bajuwaren haben hier Siedlungsspuren hinterlassen. Über die Jahrhunderte hat sich in Südtirol eine einzigartige Baukultur entwickelt. In den Wein- und Obstanbaugebieten findet man die Architektur der wohlhabenden Ansitze. Im Kampf mit der harten Natur der höheren Lagen oder im rauheren Pustertal ist eine funktionale und handwerkliche Bauweise der Bau-ernhöfe entstanden, die nicht nur aufs beste den ökologischen und ökonomischen Bedin-gungen entsprachen sondern auch gestalterisch bemerkenswert waren.

Die während des Zweiten Weltkrieges sorgfältig aufgenommenen Höfe wurden kürzlich durch den Landesdenkmalpfleger in fünf eindrucksvollen Bänden dokumentiert. Die sich um ihre Kirchen gruppierenden Dörfer stellen sich häufig als malerische Ensembles dar. Die Städte im Land beeindrucken durch ihre kompakten urbanen Stadtkerne mit Strassen und Plätzen, von maßstäblichen, stilistisch einheitlichen Bauten umgrenzt, die im Detail jedoch große architektonische Vielfalt aufweisen. Bedeutende Einzelmonumente herausragender Architektur finden sich in Kapellen, Kirchen, Schlössern und Burgen allerorten.

Diese Werte müssen mit einem wirksamen Ensemble- und Denkmalschutz geschützt wer-den. Ensembleschutz ist eine Chance für den Erhalt der Schönheit Südtirols und sollte kei-nesfalls al Hemmschuh von Bauspekulation verhindert werden.  Negative Beispiele dafür sind bereits in den Fraktionen um Brixen aufgetreten.

Die Kulturlandschaft in Südtirol

Neben der großartigen ursprünglichen Natur Südtirols wurde aber auch die bewirtschaftete Landschaft durch den Fleiß und die Sorgfalt der Bauern geprägt. Man spricht dann von einer Kulturlandschaft. Sie wird von Weinterrassen, Pergolen, Obstanlagen, Gärten, Baumgrup-pen, Wiesen und Almen geprägt. Eine Kulturlandschaft würde ohne ständige Pflege rasch verwildern. Aber auch ein gedankenloses Zubauen mit ungeeigneten Nutzungen oder Ver-kehrstrassen kann die Kulturlandschaft empfindlich beeinträchtigen. Dies gilt insbesondere für ein Bergland, in dem der Blick von oben unbedachte und störende Eingriffe leichter sicht-bar macht als in der Ebene. Deshalb kommt es besonders in Südtirol darauf an, mit einem strengen Naturschutz die natürlichen und kultivierten Schönheiten des Landes zu bewahren. Die negativen Eingriffe reichen von harten Straßeneinschnitten bis zu Hagelnetzen

Die Gefährdung Südtirols

Leider ist unsere Welt kein Paradies und schöne Regionen sind besonders gefährdet. Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Die schwärzesten Schatten wirft wohl die Tatsache, daß die langfristig angelegte Baukultur früherer Generationen in Südtirol mehr und mehr vom kurzfristigen Renditedenken überdeckt wird – nach uns die Sintflut! - ein wenig schönes Zei-chen des Wohlstandes und der Habgier derer, die mit den Schönheiten des Landes unbe-denklich Geschäfte machen wollen.

Talböden werden vielfach mit Gewerbeflächen belegt, die keine Rücksicht auf die dabei ver-loren gehende Kulturlandschaft nehmen und wo auf gute architektonische Gestaltung über-wiegend völlig verzichtet wird. Der Bozener Boden oder das Brixner Gewerbegebiet aber auch die Talböden in manchen Teilen des Pustertales sind abschreckende Beispiele. Statt im Bestand Neubauten zu errichten und Lücken aufzufüllen wird in der freien Landschaft gebaut. Neben dem unwiederbringlichen Verbrauch von Kulturlandschaft entsteht an vielen Stellen der Eindruck gedankenloser Zersiedelung. Die erforderlichen Zufahrten erzeugen nicht nur weiteren Individualverkehr sondern verbrauchen selber Grund und Boden und stel-len oft empfindliche Einschnitte in die Landschaft dar. Selbst in der Nachbarschaft besonders schöner Zeugnisse der Baukultur früherer Zeiten entstehen maßstablose Bauten, die das bisher harmonische Erscheinungsbild von Dörfern und Städten zunehmend beeinträchtigen.

Insbesondere hat der ständig steigende Individualverkehr zur Belastung beigetragen - über-all fahren oder parken Autos und zerstören frühere Idyllen durch Lärm, Immissionen und das hässliche Erscheinungsbild der Blechlawine. Straßen und Plätze werden aufgeweitet, gehen dem Fußgänger verloren, zerstören das überkommene Ortsbild und verschlechtern die Le-bensqualität. Ein umfassendes, ganzheitliches Verkehrskonzept zur Reduzierung des Indivi-dualverkehrs und seiner Kosten für den Einzelnen und die Gesellschaft ist zwar politisches Ziel, eine Realisierung aber nicht in Sicht.

Der öffentliche Nahverkehr stellt sich in einem erbärmlichen Lichte dar - zusammenhängen-de Planungen werden noch mindestens 2 Jahre auf sich warten lassen. Wenn es nicht ge-lingt in Südtirol das Verkehrsproblem zu regulieren, dann werden auch alle anderen Bemü-hungen um gute Gestaltung, Ensembleschutz, Denkmalpflege und Naturschutz vergeblich sein. Es gehört wenig Prophetie dazu, daß dann Südtirol auch für den „sanften“ Tourismus uninteressant werden wird. In diesem Zusammenhang müssen die Pläne für den Ausbau der Pustertalerstraße dringend überdacht werden – sie sind kontraproduktiv für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrssystems.

Teil 2 – Planerische Chancen für Südtirol: Leitbilder

Was sind Leitbilder in der Raumordnung und Architektur?

In der Raumordnung und der Architektur müssen vor allen Entscheidungen Leitbilder entwi-ckelt werden. Leitbilder sind sehr konkrete grundsätzliche Vorstellungen dafür, wie sich eine Region, ein Bezirk, eine Stadt oder Gemeinde langfristig entwickeln soll. Der Aspekt einer langfristigen und zukunftsfähigen Entwicklung ist besonders wichtig um Kontinuität zu erhal-ten. Widersprüchliche und kurzfristig angelegte Entscheidungen richten meist großen Scha-den an und deuten auf das Fehlen eines übergeordneten Leitbildes hin.

Leitbilder können außerordentlich verschieden sein und völlig unterschiedliche Entwicklun-gen verursachen. Am Anfang der Entwicklung eines Leitbildes steht ein bestimmtes Werte-verständnis. Es macht z.B. einen großen Unterschied, ob in einer interethnischen Region beschlossen wird, ein gemeinsames Schulsystem für alle oder ein nach Sprachgruppen ge-trenntes einzuführen. Das erste hebt den Wert der Gemeinsamkeiten heraus, das zweite betont das Trennende zugunsten der jeweiligen Identität. Da gilt es abzuwägen.

Wertmaßstäbe für die gebaute Umwelt in Südtirol

Es macht einen großen Unterschied in den Auswirkungen auf die Umwelt ob in einem Par-teiprogramm z.B. „Freie Fahrt dem freien Bürger“ gefordert wird um den unbeschränkten Straßenausbau zu unterstützen oder ob auf den öffentlichen Nahverkehr gesetzt wird um die Verkehrsbelastungen für Bürger und Umwelt zu verringern. Nur ein Beispiel: Ausbau der Pustertaler Staatsstraße oder die Einführung eines S-Bahnsystems auf der Pustertalbahnli-nie mit Buszubringern in einem günstigem Taktsystem um die den Autofahrern eine günsti-gere Alternative zu bieten.

Ein anderer Wertunterschied wäre das unbeschränkte Ausweisen von Baugebieten auf bis-her unbebautem Kulturland oder die Entscheidung für die Verdichtung im Bestand und die Wiederverwendung bereits genutzter Flächen. Auch wieder nur ein Beispiel: Bozener Stadt-erweiterung in den Obstgärten der Kaiserau oder Umwidmung des Bahnhofsgeländes.

Eine dritte Entscheidung für ein Leitbild für die gebaute Umwelt wäre der Abriss alter Gebäu-de oder deren Umnutzung und Revitalisierung. Wieder ein Beispiel: Die alten aber architek-tonisch schönen Umspannwerke der ENEL, die für den Einbau von Gewerbeflächen geeig-net wären statt deren Abriss und Errichtung einer öden Fertigteilkiste – z.B. für eine Abfüllan-lage wie am Brennerbad.

Die Art der Entscheidung für bestimmte Werte spiegelt die geistige und kulturelle Verfassung einer Gesellschaft wider. In einer Wegwerf- und Verbrauchergesellschaft werden keine dau-erhaften Dinge gefragt sein, die man auch reparieren oder deren Material man wiederver-wenden könnte. In einer solchen Konsumgesellschaft wird Mode mehr gelten als Kunst, E-vents mehr als Kultur, Halbbildung mehr als Wissen.

In der sogenannten „Spaßgesellschaft“ wird z.B eine großartige Hochgebirgslandschaft nur noch als Skizirkus wahrgenommen und vermarktet. Von der erforderlichen Ehrfurcht vor der Natur und der Schöpfung ist dann bei Nutzern und Anbietern nicht mehr viel zu spüren. „Eve-rything goes“ heißt dann das Motto und wenn die „Location“ nicht mehr „in“ und ausgelutscht ist, zieht die Karawane weiter – zurück bleibt eine Zivilisationswüste. Mit diesem Hinweis meine ich nicht nur das Grödnertal oder die Seiseralm mit ihrem Massenbetrieb.

Wir sind und wir werden sein, was wir bauen. Die gebaute Umwelt ist das Spiegelbild unse-res Verhaltens unseres Werteverständnisses. In Südtirol ist ein Umdenken dringend erfor-derlich um das Besondere unseres Landes zu erhalten.

Meine Wertmaßstäbe für Südtirol

Wir kennen die  Endlichkeit unseres Raumschiffs Erde. Ich sehe die Einmaligkeit der Region Südtirol und erkenne folgende Kategorien für das Denken und Handeln:

Dauerhaftigkeit, Umweltverträglichkeit und Wiederverwendung im Materiellen
Besondere Atmosphäre, Schönheit und Offenheit im Seelischen
Zeitlosigkeit, Ehrfurcht vor der Schöpfung und Menschenwürde im Geistigen.

An diesen Werten sollten sich die Leitbilder für Südtirol messen lassen.

Für die Entwicklung der Leitbilder für Raumordnung und Architektur empfehle ich:

Das Leitbild der Kreisläufe
also Materialkreisläufe, Energiekreisläufe und Generationskreisläufe, in denen nicht mehr verbraucht wird als in der gleichen oder anderer Weise ersetzt werden kann

Das Leitbild der Qualität
Wegen der Endlichkeit der Ressourcen zählt im Wettbewerb nicht mehr die Quantität, son-dern Klasse statt Masse. Slow-food statt Fast-food.

Das Leitbild der Substanz statt Dekoration
Es gilt dauerhafte Strukturen zu bewahren und modern weiter zu entwickeln. Der Inhalt zählt und nicht die Verpackung

Das Leitbild der Bescheidenheit
Nicht der Verbrauch sondern der Nutzen zählt. Dieser sollte mit möglichst einfachen Mitteln befriedigt werden.

Das Leitbild der Gemeinsamkeit
Nicht das protzige Auftreten sondern das maßstäbliche Einfügen währt am längsten. Nur gemeinsam mit entsprechendem öffentlichen Bewusstsein kann die natürliche und bauliche Umwelt Südtirols in ihrer Einmaligkeit bewahrt werden.

Der Schlüssel liegt bei der Politik

In einer Demokratie sind wir alle für die Politik die unsere Umwelt betrifft verantwortlich. Nicht nur am Wahltag, sondern als ständig wache, informierte, sich einmischende und sich gegen falsche Entscheidungen wehrende Öffentlichkeit. Bürgerbeteiligung ist das Wesen der De-mokratie und das beste Mittel gegen die bloße Vermarktung unserer Umwelt durch wenige Nutzniesser.
Die Entwicklung von Handlungsstrategien anhand von Leitbildern liegt in den Händen einer vorrausschauenden Politik. Einer umfassenden und ganzheitlich begriffenen Entwicklung von Leitbildern für die einzelnen Kommunen aber auch für die Landespolitik. Das übliche Herum-basteln an einzelnen Symptomen und das Reagieren auf nicht mehr rückgängig zu machen-de Eingriffe sind keine zukunftsfähige Planung. Zu stark ist heute die Vernetzung aller Berei-che.

Die politisch Verantwortlichen müssen sich zunächst einmal vor Augen führen, dass ca. 70% des Volksvermögens in der gebauten Umwelt angelegt ist. Ein ungeheures Kapital, das ver-geblich investiert ist, wenn es keinen Mehrwert erbringt. Dabei geht es nicht nur um eine Verzinsung dieses Kapitals sondern auch um den Mehrwert, welchen die gebaute Umwelt für die Lebensqualität der Menschen aufweisen soll. Nicht nur schlichte Bedarfsdeckung und bloßes Funktionieren sind das Ziel der Planung sondern auch die Erfüllung emotionaler Be-dürfnisse wie Schönheit, gute Atmosphäre und Heimat schaffende Identität in der sich die Menschen zuhause fühlen können. Erst wenn die materiellen und ideellen Bedürfnisse von der gebauten Umwelt erfüllt werden, kann man von Baukultur sprechen.

Leitbilder dafür müssen die Grundlage für eine Südtiroler Baukultur sein, die eine ganzheitli-che Betrachtung der Umweltgestaltung voraussetzt. Investition, Konstruktion, Funktion, Dau-erhaftigkeit, Gestaltung und Umweltverträglichkeit sind in ein ausgeglichenes Verhältnis zu setzten. Aus den Leitbildern kann eine Architekturpolitik entwickelt werden. Deren Erfolg wird umso größer sein, je mehr sie überzeugend in der Öffentlichkeit vertreten wird und die Bür-ger mit einbezogen werden. Erziehung, Bildung und Überzeugung sind allemal besser als Gebote und Verbote. Die Politik – die Landespolitik ebenso wie die Politik der Kommunen - hat die Aufgabe aus den Leitbildern eine Architekturpolitik zu entwickeln

Teil 3 – Vorschläge zu einer Architekturpolitik

Vor jeder Planung stehen politische Entscheidungen. Das gilt insbesondere für Vorhaben der öffentlichen Hand. Kein Planer und kein Architekt kann falsche politische Entscheidungen in eine richtige Planung verwandeln. Architekturpolitik bedeutet, die gesellschaftlichen, kulturel-len und wirtschaftlichen Leitbilder in Baukultur umzusetzen. Architekturpolitik soll die bauli-che, funktionelle, wirtschaftliche und gestalterische Qualität verbessern. Sie zielt auf eine nachhaltige Flächennutzung und sorgfältig in die Umwelt eingefügte Bebauung. Architektur-politik verleiht der öffentlichen Hand beim Bauen Vorbildfunktion. Welche Faktoren bestim-men eine Architekturpolitik, die für Südtirol geeignet ist?

Dazu Vorschläge für ein Programm Südtiroler Architekturpolitik:

1. Schutz der natürlichen Umwelt und Respektierung der gebauten Umwelt

Um die Schönheiten des Landes zu bewahren muss als oberster Grundsatz gelten sowenig wie möglich Grund und Kulturlandschaft zur Bebauung freizugeben. Die wichtigsten Gebäu-de in Südtirol sind beim gegenwärtig zu beobachtenden Bauboom diejenigen, die nicht ge-baut werden. Jede Umnutzung von Vorhandenem ist einem Neubau vorzuziehen. Zuerst müssen alle verfügbaren Lücken in schon bebauten Bereichen geschlossen werden bevor Neuland verbraucht wird. Dadurch wird vorhandene Infrastruktur optimal ausgenutzt und neue Verkehrswege vermieden. Dies bedeutet aber auch den Respekt vor der bereits vor-handenen Bebauung. Deren Maßstab in Struktur, Funktion und Volumen muss aufgenom-men werden um den vorhandenen Rahmen nicht zu sprengen und um das bestehende Orts-bild nicht zu stören. Einordnung ist das oberste Gebot für die Architekten und eine Architek-turhaltung, die sich heute gerne immer nur im Einzelbauwerk losgelöst von ihrer Umgebung gefällt. Aber niemand baut für sich allein sondern ist für das Erscheinungsbild in der Ge-meinschaft mitverantwortlich. Bauwerke beeinflussen für lange Zeit alle Mitbürger.

2. Ensembleschutz

Ensembleschutz ist einer der wichtigsten Faktoren für die Architekturpolitik. Die Möglichkei-ten des Ensembleschutzes gehören zu den entscheidenden Instrumenten, Bauvorhaben positiv zu beeinflussen. Das französische Wort „Ensemble“ lässt sich im Deutschen nur um-schreiben mit Begriffen wie das „Wesen“ oder das „gemeinsame Erscheinungsbild“ einer landschaftlichen Situation (z.B. einer Baumgruppe, eines Haines, eines Wasserfalls usw.) oder einer Baugruppe (z.B. um einen Platz, entlang einer Straße, an einer Kirche oder sons-tigem Baumonument). Es geht um das Miteinander von Fassaden, um eine Dachlandschaft aber auch um Atmosphäre, den „genius loci“.

Die Kommunen haben gemäß Landesraumordnungsgesetz, Artikel 25, das Recht und die Pflicht Ensembles auf ihrem Gebiet auszuweisen. Die Liste dieser Ensembles hat Schutzkri-terien zu enthalten – möglichst detailliert und differenziert. Die Vorschläge zur Unterschutz-stellung müssen von der Ensembleschutzkommission des Landes begutachtet werden. Bis zur Genehmigung der Ensembles tritt für diese eine Veränderungssperre in Kraft. Ein En-semble wird Teil eines Bauleit- oder Wiedergewinnungsplans. Wie bei anderen Genehmi-gungsverfahren kann der Bürgermeister nach der Beratung durch eine Baukommission die Baugenehmigung erteilen.

Von der Schutzfunktion kann man sich wahrscheinlich weniger zum Erhalt eines Ensembles versprechen als von der Pflicht der Planer, ihre Bauplanungen sorgfältiger als bisher im En-semble vorzunehmen. Analysen der Situation mit Fotodokumentation, Materialerhebungen und Darstellung des Bestandes im Zusammenhang mit der Baumaßnahme müssen erarbei-tet werden. Alleine dadurch wird der Architekt mit der Situation vertraut und es wird ihm eine sensible Einpassung seines Vorhabens erleichtert. Im besten Falle wird ihm dabei die Struk-tur der Situation so bewusst, dass sich deren Elemente in seinem Entwurf wiederfinden. Fä-hige Architekten werden dabei nicht an der Oberfläche oder an dekorativen Elementen ver-harren sondern das Wesen der Situation erkennen und ihre Gebäude aus dem gleichen Geist einfügen – auch in der Formensprache unserer Zeit. Bauherren und Investoren werden erfahren, dass es schneller und erfolgreicher zum Ziele führt sich in solchen schwierigen Situationen qualifizierter Architekten zu bedienen. Die Mitglieder der Baukommissionen und die Bürgermeister werden sich anhand der ausführlichen Dokumentationen – auf denen sie unbedingt bestehen sollten – ein besseres Bild vom geplanten Vorhaben mit seinen Auswir-kungen auf das Ensemble machen können. Lösungen, die nicht dem „genius loci“ entspre-chen können rechtzeitig verhindert oder mit Empfehlungen bzw. alternativen Planungsver-fahren verbessert werden.

Ensembleschutz ist also eine Chance für jede Gemeinde im erweiterten Planungsverfahren zu gut begründbaren Lösungen zu kommen – es ist kein Verhinderungs- sondern ein Ver-besserungsverfahren! Allerdings sollten die Kommunen die Ensembles sehr sorgfältig aus-wählen, abgrenzen und in ihrer Charakteristik beschreiben. Ensembles sollten in der Regel nicht größer sein als man sie mit einem Blick übersehen kann um ihr Wesen auch optisch aufzunehmen. Also einen Straßenraum, einen Platz, eine Hausgruppe, eine besondere städ-tebauliche oder architektonische Situation. Es müssen nicht alle Teile eines Ensembles unter Denkmalschutz stehen – denkmalgeschützte Gebäude unterliegen nach wie vor der Beurtei-lung durch die Denkmalschutzbehörden!

3. Bürgerbeteiligung

Die Festlegung der zu schützenden Ensembles sind eine gute Gelegenheit, die Bürger ein-zubeziehen und anhand der Schutzkriterien auf den Wert der Ensembles in ihrem Heimatort aufmerksam zu machen. Dabei wird man feststellen, dass viele Bürger dankbar dafür sind, wenn ihnen die ortsplanerischen und architektonischen Zusammenhänge von fachlicher Sei-te erläutert werden. Leider ist Baukultur kein schulisches Unterrichtsfach wie Musik, Literatur und Kunst, weshalb vielen Menschen architektonische Kriterien unbekannt sind. Je mehr die Bürger mit diesen Problemen sachlich von politischer und fachlicher Seite im Rahmen einer Architekturpolitik informiert und an Entscheidungen für oder gegen Planungen im Sinne von Aufklärung und Information beteiligt werden, desto einmütiger und engagierter werden sie sich für die Qualitäten ihrer Heimat einsetzen und diese gegen platte Geschäftemacherei mit Immobilien ohne Rücksicht auf die besonderen Bedingungen ihres Ortes verteidigen.

4. Baukommissionen

Baukommissionen müssen mit fachlich ausgebildeten Persönlichkeiten besetzt werden. Das heißt nicht, das alle Mitglieder einer Baukommission Fachleute oder gar Techniker sein soll-ten. Aber wer in eine Baukommission berufen wird muß über fachliches Wissen in Städte-bau, Ortsplanung und Architektur verfügen. Dafür sollten von der Landesverwaltung Ausbil-dungskurse angeboten werden. Diese müssen mit Erfolg absolviert werden, um als Kommis-sionsmitglied berufen werden zu können. Ohne die Zweisprachigkeitsprüfung wird ja auch niemand im öffentlichen Dienst mehr beschäftigt. Solche Informationskurse könnten im Rahmen eines in Südtirol einzurichtenden Bauzentrums angeboten werden.

Die bisherige Praxis der Besetzung von Baukommissionen lässt häufig den berechtigten Verdacht der Vetternwirtschaft aufkommen – zum Nachteil der gebauten Umgebung, die durch sachfremde Überlegungen meist nur beeinträchtigt wird. Insofern kann den Kommu-nen aus guter Erfahrung vorgeschlagen werden, sich des Rates von Planungsbeiräten zu-sätzlich zu den Baukommissionen zu bedienen. Planungsbeiräte bestehen in manchen Städ-ten in Deutschland und Österreich. Diese Gremien setzen sich aus oftmals auswärtigen Fachleuten zusammen, die nicht am Ort geschäftlich oder beruflich tätig sind und die ihnen vorgelegten Probleme rein sachbezogen beurteilen. Deren Beurteilungen werden dann den Baukommissionen oder dem jeweiligen Stadt- oder Gemeinderat zum Beschluss vorgelegt. Die Sitzungen der Planungsbeiräte sind öffentlich und die Projekte können von ihren Verfas-sern vorgetragen werden. In einer überschaubaren kleinen Region wie Südtirol wäre es mög-licherweise praktikabel wenn diese Planungsbeiräte vom Land berufen würden um dann bei Bedarf den Kommunen zur Verfügung zu stehen.

Außerdem möchte ich anregen, den Kontakt zwischen den Bauwerbern mit ihren jeweiligen Architekten zu verbessern. Ich plädiere für diskursive Planungsschritte. Den Bauwerbern sollte es möglich sein zu einem möglichst frühen Zeitpunkt bereits skizzenhafte Entwurfsvor-stellungen einzureichen um kostspielige Planveränderungen zu einem späteren Zeitpunkt zu vermeiden und die Zielvorstellungen abzugleichen. Auch hier ist die Öffentlichkeit des Ver-fahrens ein großer Vorteil um zur angemessenen Lösung für den bestimmten Fall zu kom-men.

5. Einrichtung eines Bozener Bauzentrums

Einen weiteren Service des Landes sollten die Kommunen für sich, die Bauindustrie, das Handwerk und die Beratung von Bauherren in Südtirol initiieren: ein Bauzentrum Bozen. Nach dem bewährten Vorbild von Bauzentren in anderen Regionen Europas sollte die Auto-nome Provinz Bozen-Südtirol ein Bauzentrum im Industriegelände Bozen einrichten (Vor-schlag: Nutzung des Alumixgebäudes). Die Funktionen des Bauzentrums könnten neben Ausstellungen zu Stadt- und Ortsplanungen, Architektur und technischen Innovationen Bau-forschung und Baudokumentation, die Ausbildung von Mitgliedern für Baukommissionen, die Information von Bauherren zu Planungsvorgängen, Ausschreibungs- und Vergabemethoden, eine Baukostendatenbank, die Präsentation von Baumaterialien, Handwerksbetrieben und Baufirmen, eine Architekten- und Ingenieursbörse, die Beratung zu rechtlichen Fragen des Bauens, Medientreffpunkt u.a. umfassen. Kompetenzen könnten hier anschaulich und prakti-kabel für die interessierte Öffentlichkeit aber auch für die Fachwelt dargestellt werden.

6. Globale Kostenberechnung bei öffentlichen Bauten

Die Berechnung lediglich der Baukosten ohne Einbeziehung der Unterhaltskosten während einer angenommenen Nutzungsdauer und die Rückbaukosten ergeben zur Zeit ein völlig falsches Bild der Baukosten der öffentlichen Hand. Darüber hinaus fördert die Betrachtung nur der Investitionskosten ein verfehltes Vergabeverfahren, welches immer den billigsten aber nicht den preiswertesten Anbieter berücksichtigt. Die Folge: kostspielige und oft folgen-reiche Bauschäden bereits nach der Abnahme der Bauwerke oder unmittelbar nach Ablauf der Gewährleistungsdauer.

Nur bei der Betrachtung der Globalkosten eines Bauwerkes, bei dem auch die externen Kos-ten (Schädigung der Umwelt durch Energieverbrauch, Verwendung von Werkstoffen, die nicht in den Materialkreislauf zurückgeführt werden können usw.), die der Allgemeinheit ent-stehen berücksichtigt werden ergibt sich die Kostenwahrheit für öffentliche Bauten. Die sich bei der Investition ergebenden Mehrkosten für technische Maßnahmen zur Energieeinspa-rung, wiederverwendbarer Materialien oder innovativer Klimahaustechnik können sich bei der Berechnung der Globalkosten als Einsparmaßnahmen herausstellen und somit langfristig das kommunale Budget für Bauunterhalt entlasten.

7. Veränderung der Vergabepraxis und Einsparungen über Logistik

Das derzeitige Vergabeverfahren, das auf der Basis der billigsten Angebote durchgeführt wird, ist eines der Gründe für die weithin zu beobachtende schlechte Bauqualität. Nicht der billigste Bieter ist der geeignete Auftragnehmer sondern der Preiswerteste. Wer zu billig an-bietet um den Auftrag zu erhalten muß auf Kosten der Qualität und damit des Auftraggebers den notwendigen Gewinn erwirtschaften. Wenn etwas seinen Preis wert ist, dann hat das etwas mit der Qualität zu tun, für deren Niveau sich der Auftraggeber entscheiden muss. Qualität hat seinen Preis, der ins Verhältnis zum erwarteten Ergebnis gesetzt werden muss:
 
Ein Investor, der letztlich für fremde Interessen baut, da er das Produkt verkauft, wird nur daran interessiert sein, dass die verkaufte Immobilie die Gewährleistungsfristen übersteht – danach die Sintflut. Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine Kommune und jeder andere Bauherr, der für den Eigenbedarf baut, ist wegen der zu erwartenden Kosten des Bauunter-haltes über Jahre oder Jahrzehnte an nachhaltiger Dauerhaftigkeit interessiert. In die Verga-berichtlinien müssen dringend überprüfbare Qualitätsnachweise eingeführt werden.

Baukosten lassen sich ohne Qualitätsverlust nur noch geringfügig durch Einsparung an Pla-nungshonoraren, Konstruktion und Materialwahl senken. Allerdings liegen im Bereich der Bauausführung noch erhebliche Kostenpotentiale. Untersuchungen haben ergeben, dass mit streng gesteuerter Logistik in der Bauleitung bis zu 30% der Baukosten eingespart werden. Voraussetzung ist ein genau einzuhaltender Bauablauf, bei dem nicht eingehaltene Termine und mehrfache Rückkehr von Firmen auf die Baustelle wegen nur teilweise erledigter Arbei-ten über entsprechende Verträge mit Konventionalstrafen oder Zahlungseinbehalten belegt werden. Der Bauablaufplan muss zusammen mit den beauftragten Firmen allerdings einver-nehmlich und zeitenrealistisch als juristisch verpflichtendes Dokument Vertragsgrundlage werden.

8. Auswahl der Architekten über Qualifikation

Entscheidend für das Gelingen eines Bauvorhabens im Hinblick auf seine Einfügung in die Situation, für seine architektonische Gestaltung, für seine Durchplanung im Detail und für seine Beaufsichtigung in der Durchführung ist die Auswahl des Architekten und dessen Be-auftragung für die Gesamtplanung – nach Möglichkeit als Generalplaner. Die Aufteilung in getrennte Planungs- und Ausführungsbereiche bedeutet die Aufgabe der ganzheitlichen Verantwortung. Das führt immer wieder zu Auseinandersetzungen über die Verantwortung von Schäden zu Lasten des Auftraggebers. Der Architekt muss nach seiner Qualifikation – am besten über ein Gutachter- oder Wettbewerbsverfahren zum zu beauftragenden Pla-nungsobjekt - ausgewählt werden und nicht allein über das niedrigste Honorarangebot. Die Vertragsgestaltung sollte nicht mit auf Haftung für die Dienstleistung sondern in der Verant-wortung für das Werk erfolgen (Werkvertrag).

Im Hinblick auf die dauerhafte Qualität einer Immobilie ist die ungünstigste - aber weitverbrei-tete! - Art der Auftragsverteilung die Vergabe an einen Generalübernehmer, der womöglich auch noch die Planung ausarbeitet. Damit wird für den Auftraggeber die Qualitätskontrolle erschwert oder gar unmöglich gemacht. Die Folge ist, dass hier überdurchschnittliche Ge-winne vom Auftragnehmer auf Kosten der Ausführungsqualität und damit letztlich des Auf-traggebers erwirtschaftet werden. Aus diesem Grunde ist in einigen Bundesländern in Deutschland und in Frankreich bei Aufträgen der öffentlichen Hand die Vergabe an General-übernehmer nicht zulässig. Für die Qualität beim Bauen ist die klassische Aufgabenteilung in Auftraggeber (Bauherr), Planer (möglichst als Generalplaner) und Ausführung (vom Bau-herrn zu beauftragende Firmen – u.U. als Generalunternehmer) nach wie vor die beste Ge-währ wegen damit verbundenen Kontrollmöglichkeiten (z.B. durch einen Fachmann - Pro-jektsteuerer – auf der Auftraggeberseite).

9. Entwicklung einer Strategie für das Erbe der Baukultur

Südtirol weist in seiner Geschichte eine reiche Baukultur auf. Die baulichen Zeugen der Ver-gangenheit sind nicht nur ein Anziehungspunkt für die Besucher und Touristen sondern auch ein Grund für das Heimatgefühl der Südtiroler, für die Identifikation der Menschen mit den Orten, in denen sie leben. Diesen Reichtum gilt es zu erhalten und besonders zu schützen.

Der Denkmalschutz - und neuerdings auch der Ensembleschutz - wird häufig völlig zu Un-recht als Behinderung einer modernen Wirtschaftsentwicklung betrachtet. Findige Investo-ren, Bauherren, Hoteliers usw. versuchen ihn nach Möglichkeit zu umgehen, wenn es sich darum handelt mit Immobilien Gewinne zu erwirtschaften, Bauflächen in unmittelbarer Nähe von Denkmälern zu nutzen oder schöne alte Häuser maßstabslos aufzuweiten. Diese Ein-stellung ist absolut falsch und auf lange Sicht schädlich. Wer auf die Beseitigung schöner alter Bausubstanz spekuliert, der sägt letztlich an dem Ast auf dem er sitzt, denn Südtirol lebt zum großen Teil von einem Tourismus, der auf der Anziehungskraft seiner landschaftlichen und baukulturellen Schönheiten beruht.

Wer sich neue Baugebiete, vor allem aber Gewerbegebiete in Südtirol anschaut, wird zugeben müssen, dass wegen dieser Neubauten niemand Südtirol von weither besuchen wird. Ganz im Gegenteil – viele Liebhaber und Stammgäste haben wegen der Beeinträchti-gung der Orts- und Landschaftsbilder in den letzten Jahren Südtirol den Rücken gekehrt, weil soviel Liebgewordenes und für Südtirol Charakteristisches verloren gegangen ist und weiter verloren geht.

Zusammen mit der behördlichen Denkmalpflege, die dringend in ihrer Tätigkeit unterstützt werden muss, sollten die Kommunen eine Strategie gegen die allerorts zu beobachtende „Vermarktung“ der verbliebenen Schönheiten entwickeln. Wer sich z.B. die „Erschliessung“ des Schnalstales bei Kurzras, die Verwüstung des Grödnertals, das inzwischen wie ein städ-tischer Vorort in der Provinz wirkt, die schleichende Bebauung der Villandereralm, oder die unmaßstäbliche Zersiedelung rund um die Städte Meran, Bozen, Brixen und Bruneck be-trachtet, weiß wovon die Rede ist.

Liebhaber Südtirols fahren kopfschüttelnd durch die abstruse Hässlichkeit der Gewerbege-biete dieser Städte oder des Unterlandes und fragen sich, warum keine Gestaltungssatzun-gen für eine städtebaulich und architektonisch zusammenhängende Entwicklung vorgegeben wurden, in die sich die Bauwerber hätten einfügen müssen. Jeder kann nach seinem Gusto bauen und so zerwühlt sehen diese „architektonischen Wildschweingebiete“ dann auch aus. Hässliche Gestaltung ist doch nicht zwingend eine Voraussetzung für gewerbliche Produkti-on. Auch bei äußerster Wirtschaftlichkeit kann ein Gewerbebau gut gestaltet sein, dazu be-darf es kreativer Planer, strengerer Baukommissionen und Widerstand in der Bevölkerung gegen diesen Ausverkauf der Talböden.

Die heutigen, rein aus dem ungebremsten Renditedenken entstandenen Zerstörungen der Landschaft und Beeinträchtigungen der Ortsbilder sind eine Hypothek für die nächste Gene-ration, die sich vielleicht wieder darauf besinnt, dass man von Geld allein nicht glücklich wer-den kann. Um diese sich fortsetzenden Entwicklungen zu steuern, muss zusammen mit der Denkmalpflege, dem Naturschutz und den Vernünftigen in der Politik des Landes eine ge-meinsame Strategie zur Erhaltung der Qualitäten Südtirols entwickelt und durchgesetzt wer-den, sonst ist abzusehen, wie eine einst fast paradiesische Region zersiedelt und verstädtert wird.

10. Ein ganzheitliches Verkehrskonzept für Südtirol!

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Verkehr in Südtirol vielfach zerstörerische Ausmaße angenommen hat. Der Schwerlastverkehr benutzt die Brennerautobahn inzwi-schen als rollende Lagerhaltung zu Preisen, welche die extern für Umwelt und Anwohner entstehenden Kosten nicht berücksichtigt. Wäre das der Fall und gäbe es eine leistungsab-hängige Schwerverkehrsabgabe wie in der Schweiz, wäre die Schiene das kostengünstigere Verkehrsmittel.

Der erbärmliche Zustand des öffentlichen Nahverkehrs in Südtirol zwingt die Menschen ge-radezu Geld für eines oder mehrere Fahrzeuge in der Familie auszugeben und diese dann auch zu benutzen – mit allen Konsequenzen für Staus und Zeitverschwendung, Lärm, Fein-staubbelastungen, Verletzte und Tote durch Unfälle, die meist durch Raserei und Alkohol verursacht werden. Bisher ist eine Verkehrspolitik betrieben worden, die einseitig den Stra-ßenbau gegenüber der Schiene berücksichtigt hat. Inzwischen wird erkannt, daß vermehrter Straßenbau zu weiterem Kraftfahrzeugverkehr führt. Proteste der Bevölkerung gegen diese Politik zeigen sich zunehmend. Beispiele: Im Pustertal gegen den Ausbau der Staatsstraße, im Vinschgau gegen den Ausbau der Straße bei Töll und im Unterland gegen eine weiter Fahrspur der Autobahn.

Nach anfänglichem Widerstand der Geschäftsinhaber hat sich gezeigt, daß Läden in Fuß-gängerzonen wegen der ungestörten Einkaufsmöglichkeiten zur Umsatzsteigerung geführt haben, daß durch Verkehrsberuhigung auch in kleinen Ortskernen die Lebensqualität erheb-lich zugenommen hat. Leider werden die Parkplätze dafür oft so unsensibel direkt neben den baulichen Schönheiten angeordnet, dass deren Wirkung stark beeinträchtigt wird.

Die Feinstaubbelastungen in den Tälern Südtirols haben bedenkliche Ausmaße für die Ge-sundheit der Bewohner angenommen, Kinder erkranken deshalb häufiger als früher an Infek-tionen und Allergien. Ist uns der eigene Pkw diese Opfer wert?

Alles das wird sich nicht ändern wenn der öffentliche Nahverkehr weiterhin eine so jämmerli-che Alternative darstellt. Die Landesregierung hat seit einiger Zeit ein Mitspracherecht beim Schienenverkehr, die Vinschgerbahn wird sogar vom Land betrieben, aber mit der vollkom-men daran uninteressierten FS scheint die Einrichtung eines effektiven Schienennahver-kehrs nicht möglich zu sein. Vielleicht schafft das Land ja eine Lizenz zur Benutzung der Schieneninfrastruktur um ein eigenes S-Bahnnetz z.B. im Pustertal zu betreiben. Dazu ge-hört aber auch die Mitarbeit der Gemeinden. Diese müssen sich an den Buszubringerlinien beteiligen, die Bahnhöfe und Haltestellen attraktiver nutzen, genug P+R Stellflächen vorse-hen und für ausreichend Fahrradständer sorgen. Die Investitionen dafür sind besser ange-legt als Gemeindestrassen aufzuweiten und für jeden Schreihals weitere innerörtliche Stell-plätze auf öffentlichem Grund zu schaffen.

Selbstverständlich muss die Landesregierung ein ganzheitliches und schlüssiges Verkehrs-konzept vorlegen. Aber die Gemeinden müssen auch mitziehen, denn an der Verkehrspolitik wird sich die künftige Lebensqualität in Südtirol entscheiden.

Schlussbemerkung

Diese Vorschläge haben nur zum Teil etwas mit den bekannten gesetzlichen Bauvorschriften zu tun. Vorschriften sind nur insoweit wirksam, wie der Geist der sie erfüllt. Entscheidend ist also der Geist der Inhalte, welche die Politik der Kommunen bestimmen sollte. Eine Architek-turpolitik mit Leitbildern und Wertmaßstäben könnte es sein.

Nochmals möchte ich darauf hinweisen, dass die Qualitäten und Vorzüge Südtirols darin bestehen, dass viele Natur- und Kunstschönheiten auf kleinstem Raum zusammenkommen. Gerade der beschränkte Platz macht Südtirol ungeeignet für Massentourismus, massive Be-bauung, Massenverkehr.

Riesenhotels ab 150 Betten und Golfplätzen, wie sie jetzt von angeblich so cleveren Touris-tikmanagern gefordert werden um den Anforderungen der Globalisierung zu entsprechen, werden das Gegenteil bewirken. Massenweise kommen vielleicht die falschen Gäste, der gute Individualtourist aber bleibt weg. Wollen wir Masse statt Klasse? Ähnliches gilt für Fe-rienwohnungen, Wohnbauten ganz allgemein, Gewerbebauten und Strassen.

Das große Vorbild, wie der Wandel von der billigen Quantität zur gesuchten Qualität ge-schafft werden kann, ist für mich der Südtiroler Weinbau. Und welche Erfolge hat er jetzt! Südtirol ist das am höchsten qualifizierte Weinbaugebiet Italiens geworden – vergangen sind die Zeiten der Kaltererseeschwemme!

Maßstäbe und Wertvorstellungen für eine solche Politik der Qualität, auch für eine Architek-turpolitik Qualität zu erarbeiten, dazu sollen die Analysen und Anregungen in diesem Referat dienen. Gehalten wurde es aus der Begeisterung für eine der schönsten Regionen Europas und dem Wunsch, diese Schönheit zukunftsfähig zu erhalten.

Andreas Gottlieb Hempel
4.479 Wörter / 34.206 Zeichen mit Zwischenräumen



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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