Mittwoch, 30.03.2005 | Ein kleines Paradies

Für das Ruhrgebiet hatte der deutsche Kanzler Willy Brandt vor Jahrzehnten „blauen Himmel“ und mehr Lebensqualität versprochen. In Brixen könnte man mit diesem Programm für vorhandene Selbstverständlichkeiten keine Wahl gewinnen. Hier muss man vielmehr darauf achten, daß nichts davon verloren geht.

„Ubi bene, ibi patria“ lautete ein Spruch, der uns Lateinschülern besonders gut in der Gymnasialzeit gefiel. Es war Anfang der Fünfziger Jahre in Deutschland. Sowohl die Bombennächte mit ständigem Fliegeralarm der letzten Kriegsmonate als auch die Hungerjahre danach blieben in deutlicher Erinnerung und die Umstände des täglichen Lebens waren immer noch kärglich. Es wurde auf Trümmergrundstücken und in Baustellen für die bescheidenen Sozialwohnungen der vielen Flüchtlinge gespielt. Der Lateinlehrer machte aus seiner ehemaligen Parteizugehörigkeit kein Hehl, pries den deutschen Landser als den besten Soldaten der Welt, ödete die Schüler mit nationalen Sprüchen über Heimatliebe an und fabulierte vom deutschen Volk, dass nun auch in schlechten Zeiten zusammenstehen müsse. Für ihn war die lateinische Sentenz, dass das Vaterland dort sei, wo es einem gut ergeht, so etwas wie ein hochverräterisches Sakrileg. Man habe mit seiner Heimat durch dick und dünn zu gehen, vor allem durch dünn. Soweit die Gymnasialklasse aus Sprösslingen alteingesessener Familien bestand war ihm eine kaum verhohlene Zustimmung sicher. Der überwiegende Teil jedoch bestand aus Kindern von weither zusammengewürfelten Flüchtlingsfamilien, denen das Gefühl für ihre Heimat durch Vertreibung, Verlust und das Herumgeschubse in Auffanglagern und Zwangseinweisung bei feindselig reagierenden Ansässigen verloren gegangen war. Sie alle träumten von einer imaginären Heimat, in der es ihnen einmal gut gehen würde. Kaum einer von ihnen blieb nach der Matura in der etwas spießigen und behäbigen Stadt des deutsch-national eingefärbten Lateinunterrichtes sondern sie studierten bevorzugt in München, die Kriegsdienstverweigerer gingen nach Berlin. Ein halbes Dutzend von ihnen – immer noch dem Motto „ubi bene, ibi patria“ nachhängend – machte internationale Karrieren dort, wo sie Erfolg hatten und es ihnen gut ging. Manchmal trafen sie sich und erzählten von ihrer neuen, freiwillig gewählten Heimat, in der sie doch immer Fremde bleiben würden. Sie trösteten sich jedoch damit, dass sie diese Heimat mit einem anderen Blick als die Einheimischen sähen, denen ihr Zuhause so ganz selbstverständlich sei, dass sie oft weder deren Wert richtig einzuschätzen vermochten noch deren Fehlentwicklungen zu kritisieren imstande seien.

Kürzlich trafen sie sich wieder, reisten aus Tokio, Paris, London, Washington, Berlin und Brixen an. Der Wahlbrixner musste sich der Frage unterziehen, warum er denn die deutsche Hauptstadt verlassen hatte um seine alten Tage in einer Kleinstadt zu verbringen. Dazu musste er weit ausholen:
Im Oktober 1961 habe er einmal genug bekommen vom grauen Hochnebel über München und den muffigen Gesichtern um ihn herum. Irgendwer hatte ihm gesagt, man brauche nur mit dem Zug über den Brenner zu fahren um bei tiefblauem Himmel unter dem sich golden verfärbendem Weinlaub einer Pergola vor der weißen, warmen Wand eines Weinbauernhofes an Holztischen neuen Wein zu probieren, Schüttelbrot zu brechen und würzigen Speck in dünnen Scheiben dazu zu genießen. Er kam an einem späten Nachmittag in Brixen an. Das Weinlaub war tatsächlich golden. Die Blätter der wilden Kirschen hatten sich tiefrot verfärbt, die Wiesen waren noch feuchtgrün während auf den Bergen der erste frischgefallene Schnee sich strahlend weiß gegen ein unendliches Blau des Himmels abgrenzte. Er ging durch die großen Lauben. Die Fassaden mit den romantischen Erkern grenzten den Blick ein und steigerten dadurch die ausschnitthafte Wirkung des Ploseberges, dessen beschneite Höhe sich im Sonnenuntergang allmählich rosa verfärbte. Gleichzeitig verwandelte sich der Himmel darüber ins Türkisfarbene. Der kühle Abendwind trieb von Norden fischförmige Föhnwolken rasch darüber hinweg. Auch sie wechselten opalisierend vom zunächst zarten Gelb in ein unwirkliches Rosé. Der Fremde wunderte sich, dass von den geschäftigen Menschen in den Gassen kaum einer den Kopf hob. Er aß an einem blankgescheuerten Tisch des Künstlerstübeles Spaghetti Bolognese und ein Wienerschnitzel mit grünem Salat. Er trank dazu einen Eisacktaler Sylvaner und geriet in Entzücken über den Wohlgeschmack einfacher Dinge. Vom Nachbartisch beobachtete ihn eine Brixner Familie und er wurde in ein langes Gespräch einbezogen – freundliche Menschen. Danach schlief er gut im Gasthaus Senoner, das beruhigende Geräusch des Flusses im Ohr und im Unterbewusstsein ein Gefühl von verloren geglaubter aber wiedergefundener Heimat. Brixen war jedenfalls eine Liebe auf den ersten Blick.

Die Freunde grinsten. Das sei ja gerademal gut für einen Urlaub aber doch nichts für eine dauerhafte Zukunft. Der Brixen-Liebhaber fragte dagegen, was denn nun so falsch an einem Leben in Urlaubsatmosphäre mit mehr sonniger Leichtigkeit sei? Immerhin sei diese eine unverhoffte Zugabe zu den üblichen Schwierigkeiten im Alltag und vielleicht die Ursache für die größere Gelassenheit und Heiterkeit der Menschen in seiner Stadt. Die Hast und Hektik, die er in den Metropolen der Welt erlebt habe, sei jedenfalls dauerhaft nicht auszuhalten. Immer wenn ihm dieser Stress zuviel wurde, so fuhr er fort, sei er nach Südtirol gefahren. Und das immer häufiger - gerade weil die übermäßige Unruhe, die Aufregungen, die Events, die Angebote und Anforderungen in der Großstadt immer mehr wurden. Auf langen Wanderungen habe er nicht nur vielfältige Naturschönheiten kennengelernt, die er in keiner anderen Region in so abwechslungsreicher Dichte entdeckt habe sondern auch oft seine verlorengegangene Seelenruhe wiedergefunden. Überhaupt müsse man sich Südtirol erwandern, um das Land und auch sich selbst besser zu verstehen. Wohlbefinden habe etwas mit der Zeit zu tun, die man sich nimmt um äußere und innere Eindrücke zu verarbeiten, schloss er und fügte noch hinzu, dass man in Brixen mit dem Wandern hinter dem Haus beginnen könne, während die hektischen Bewohner der Metropolen in ihrer Verzweiflung über die zugebaute Natur das einem Veitstanz ähnliche Joggen in den Parks erfunden hätten. Dabei könne man vor lauter Schnaufen wohl nicht mehr nachdenken.

Na, meinte der Freund aus Paris spöttisch, worüber willst Du denn so in der Provinz nachdenken? Da gibt es doch keine kulturellen Angebote!
Darauf entgegnete der andere spitz, dass er bei seinen zahlreichen Kongressen in Paris vermutlich mehr ins Theater, in den Louvre oder in Ausstellungen gegangen sei als so manche Bewohner der Stadt, die, wie man von den Großstädtern im allgemeinen ja wisse, von dem überwältigenden Angebot direkt vor der Haustüre im Alltag gar keinen Gebrauch machten. Er selbst habe in seiner Münchner und Berliner Zeit sich auch nur von der Arbeit frei gemacht um auszugehen, wenn Besuch angereist kam. Im übrigen zeige ein Blick auf die Europakarte, dass Südtirol eine Region im Herzen Europas sei, Mailand sich genauso weit oder nah entfernt wie München befände und Fahrten nach Venedig, Florenz oder Rom für die Entfernung nach Kaiserslautern, Frankfurt, oder Hannover durchaus entschädige. Und überhaupt, fügte er hinzu, durch die ewigen Törggele-Klischees, Trachtenumzüge und Blaskapellenfeste würde ein völlig falsches Bild der Südtiroler Kultur vermittelt. Abado dirigiere inzwischen ja wohl öfter in Bozen als in Berlin, die Literaturszene sei äußerst differenziert und beim Publikum käme es ja nicht auf dessen Quantität sondern die Qualität an. Im übrigen lache er über manchen bisher unbekannten Kabarettisten lieber im kleinen Kreise des Anreiterkellers in Brixen als über die schwachen Scherze einer ausgelutschten Berühmtheit im ZDF. Und gutgemachte Ausstellungen gäbe es so viele, dass man gar nicht alles wahrnehmen könne. Ganz abgesehen von der großen Zahl besuchenswerter Schlösser, Kirchen und Museen.

Was sei überhaupt Kultur? – so philosophierte er weiter. Die Esskultur in Südtirol läge, an der relativen Anzahl der Kochkünstler gemessen, jedenfalls gleichauf mit der italienischen und französischen Kochkunst. Kein Vergleich mit Deutschland oder gar Ostdeutschland und England, wo man sich in der Regel unter dem gastronomischen Gefrierpunkt befände. Dort und in den übrigen Teilen der Welt könne man ja ohne aktuelle Nachschlagewerke kein ordentliches Restaurant finden während man sich in Südtirol beinahe überall an den gut gedeckten Tisch setzen könne um hervorragend zu essen. Nicht nur Schlutzkrapfen und Geselchtes sondern auch überraschend fantasievolle Kreationen junger Südtiroler Spitzenköche. Auch die früher vielverspotteten größeren Gebinde von „Kalterersee-Auslese“ seien dank großer Anstrengungen einer neuen Winzergeneration durch edle Flaschenweine abgelöst worden. Viermal hintereinander seien Südtiroler Winzer zu „Kellermeistern des Jahres in Italien“ gekürt worden und von den „Drei-Gläser-Auszeichnungen“ gingen allein sieben Prozent nach Südtirol obwohl hier nicht einmal ein Prozent des italienischen Weines gekeltert würde – vor allem der Weißwein aus dem Eisacktal habe dabei Anerkennung gefunden. Er, meinte der Wahlbrixner, fände die kulinarische Kombination aus altösterreichischer Tradition und mediterranem Einfluss schlichtweg unübertrefflich und er brauche hier weder Sushi-shops, Hamburger- und Currywurstbuden oder schlaffe Weisswürscht mit Bier vor dem Zwölferläuten.

Während er sich von seinem Plädoyer fürs gute Essen in Südtirol erschöpft zurücklehnte, wies der Berliner Freund darauf hin, daß gerne übersehen werde, dass die Baukultur einen weiten aber meist unterschätzten Sektor der Kultur ausmache. Architektur sei aber nicht nur Teil des Wirtschaftsgeschehens sondern umgebe uns allerorten. Ganz besonders sei dies spürbar bei mangelnder Qualität und von der habe er auch in Südtirol gehört. Wie denn der Wahlbrixner als Architekt und Kritiker in Sachen Baukultur diese Szenerie ertrüge. Berlin böte da doch ganz andere Anregungen.

Schon falsch! rief der Angesprochene aus, zunächst sei Brixen schon einmal 336 Jahre älter als die deutsche Hauptstadt und Baukultur habe auch etwas mit Baugeschichte und Bautradition zu tun. Davon seien in Berlin nur noch Restbestände vorhanden während im vollständig erhaltenen Dombezirk Brixens nicht nur der bedeutendste Freskenzyklus des Alpenraumes zu besichtigen sei sondern dass auch die hervorragend erhaltene und gepflegte bürgerliche Altstadt eine ganz besondere Stimmung aufwiese. Diese sei übrigens abends besonders schön beleuchtet durch eine raffinierte Lichtinszenierung, welche die historischen Fassaden ganz gleichmäßig ausleuchte. Wenn auch die städtebaulich sorgfältig geplante Stadterweiterung Brixens im Rosslauf architektonisch nicht gerade das gelbe vom Ei sei, so läge sie doch von der Lebensqualität her gesehen weit vor den Plattenbauten im Ostteil von Berlin. Zugegeben, daß Berlin wohl der architektonisch bedeutendste workshop der Welt sei aber schließlich könne man eine Millionenmetropole im brettlflachen Brandenburg nicht mit einer Kleinstadt im Gebirge vergleichen. Dort, in einer gesegnet schönen Landschaft, fielen allerdings die Bausünden, vor allem an den Rändern der Stadt, ungleich unangenehmer auf, weil man sie vom Berg auch noch von oben sähe. Gemeinsam hätten Berlin und Brixen wohl den Druck von renditesüchtigen Investoren auf die Entscheidungen von Politikern, die vor Spezln, Freinderln und Parteigenossen eher in die Knie gingen als die Raumordnung der Stadt konsequent im Sinne einer ganzheitlichen nachhaltigen Entwicklung zu steuern. Natürlich gäbe es auch in Brixen nachdenkliche und gute Architekten, die sich sensibel um eine angemessene Maßstäblichkeit im bebauten Ensemble oder draußen in der Kulturlandschaft bemühten. Häufig seien allerdings diese guten Lösungen in der Masse des gestalterisch anspruchslos Gebauten nicht genügend wahrzunehmen.

Ganz allgemein, meinte der Neubrixner, sei Südtirol - nach den sehr schwierigen Jahrzehnten der Annexion durch Italien – mit der Autonomie vielleicht zu rasch wohlhabend geworden um den Trend zur „Vermarktung“ auch des letzten schönen Fleckerls behutsam steuern zu können, zu groß sei doch die Versuchung einfach abzusahnen. Aber natürlich sei gegen den hart erarbeiteten Wohlstand ganz und gar nichts einzuwenden. Allein die Arbeitslosenzahlen sprächen Bände: 2% nicht Beschäftigte in Südtirol gegen 18% Arbeitslose in Berlin – sei das etwa nichts? Die ungebremste Bauerei der letzten Jahre in Brixen habe schließlich auch ihr Gutes. Leerstand von Büroflächen und ein ausreichendes Wohnungsangebot hielten die Mietpreise einigermaßen in Grenzen. Halt! rief der Freund aus Tokio, der wegen der astronomischen Immobilienpreise dort sich gerade eine Wohnung in München gekauft hatte. Er habe von seinem Makler erfahren, dass die Spitzenpreise pro Quadratmeter Wohnfläche in Brixen denen von München in nichts nachstünden. Gut, räumte der Andere ein, Brixen hat aber auch die zweithöchste Bevölkerungszuwachsrate in Südtirol. Dennoch könne man mit weiterem Bauen künftig zurückhaltender sein, denn im Wohnbereich läge das Brixener Raumangebot zweieinhalb Mal so hoch wie Bozen und damit an der Spitze der Südtiroler Städte. Das gleiche gelte auch für den Büro- und Gewerbebereich. Es bestünde also eine zukunftsfähige urbane Grundausstattung Brixens gleichzeitig mit den wenigsten Arbeitslosen und der höchsten Erwerbsquote in der Region. Dies resultiere nicht zuletzt aus dem hochmodernen, innovativen und nahezu emissionsfreien High-Tech-Gewerbe, das sich in Brixen angesiedelt habe. Neben dem Tourismus und der Landwirtschaft seien diese zukunftsfähigen Betriebe zum dritten Standbein der Stadt geworden.

Aber was ist denn mit der Ausbildung? warf der Schulfreund ein, der in Washington lebt und dessen Kinder eine internationale Schule besuchen. Durch die Unterrichtssprache Französisch, dem Amerikanischen im Alltag und dem Deutsch zuhause seien sie damit kurz vor der Matura perfekt dreisprachig, fügte er stolz hinzu.

Dreisprachig werden wir hier auch, gab der Brixner Freund witzelnd zurück, nämlich Südtirolerisch, Deutsch und Italienisch. Aber nach der Pisa-Studie läge Südtirol im Lesen und Rechnen nach Finnland in Europa ganz vorn, auch vor den Franzosen und erst recht vor den Amis. Überhaupt ginge es mit den Kindergärten- und Schulanmeldungen ganz ohne Stress. Seine Kleine sei in Berlin über zwei Jahre auf der Warteliste für einen Kindergartenplatz gewesen, in Brixen dagegen hätte die Aufnahme in den Kindergarten ganze 15 Minuten gedauert. Dabei sei die Geburtenrate in Südtirol um einiges höher als im vergreisenden Deutschland. Er gäbe allerdings zu, dass er für die getrennte Erziehung der Sprachgruppen wenig Verständnis habe. Die Kleinen würden sonst sicher perfekt zweisprachig aufwachsen können. Aber man müsse eben auch den historischen Hintergrund mit der Unterdrückung der deutschen Sprache unter dem italienischen Faschismus berücksichtigen und jeder könne ja bei gutem Willen die andere Sprache problemlos perfektionieren. Für ihn sei es jedenfalls eine ganz große Bereicherung in einer Region zu leben, in der sich zwei Kulturkreise mit ihren Sprachen und ihrer kulturellen Verschiedenheit überschneiden und damit ein einzigartiges Beispiel für das europäische Zusammenwachsen bieten. Toleranz und Verständnis im Alltag zu üben habe er in solcher Selbstverständlichkeit sonst noch nirgends erlebt. Die gelegentlichen Reibungen dabei wären für ihn eher marginal als dramatisch und seien im Zuge der Autonomie zu einem eher etwas angestrengt wirkendem Ritual der ewig Gestrigen geworden. Die Zukunft läge aber in einer hochqualifizierten Ausbildung. Dafür werde hier sehr viel getan und Brixen nähme mit seinen Schulen und der neuen Universität mit immer mehr jungen Menschen eine Spitzenposition ein.

Er lehnte sich gemütlich zurück und gab zu, dass die Freunde in ihren Metropolen z.B. funktionierende öffentliche Verkehrsmittel hätten. Während er in Berlin auch kein Auto gebraucht hätte, käme er leider in Südtirol nicht ohne Fahrzeug aus. Aber in Brixen sei alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar – ein angenehmer Teil der körperlichen Bewegung, die der Mensch nun mal so brauche. Und er fuhr fort, die Vorteile einer Kleinstadt anzupreisen:

Jeder kenne Jeden – was sicher auch ein Nachteil sein könne, was das unvermeidliche Gerede übereinander beträfe! – aber man fühle sich nie allein gelassen oder verloren. Man träfe sich immer wieder, was zu einem freundlicheren und sorgsameren Umgang miteinander führe als in der anonymen Großstadt. Überhaupt sei die heitere und gelassene Freundlichkeit möglicherweise eine besonders gute Eigenschaft der Südtiroler aber doch auch ein Kennzeichen der Menschlichkeit in überschaubaren kleineren Städten. Brixen sei noch dazu am Wege der wichtigsten Touristenströme in Europa gelegen und deshalb auch durch die vielen Besucher immer lebendig. Entsprechend vielfältig sei das Angebot für die Freizeit und der Läden, Restaurants, Bars und Cafés. Tage, an dem die Bürgersteige hochgeklappt bleiben, gäbe es fast nicht, denn zu allen Jahreszeiten kommen die Gäste. Im Sommer und Winter mehr aus dem Süden, im Frühjahr und Herbst überwiegend aus dem Norden. Eine gute Mischung von Gästen, die durch die einmalige Verbindung von Urbanität und besonderer Naturschönheit immer wieder angezogen würden. Und wem in Brixen nach dem Besuch einer größeren Stadt zumute sei, der könne ja Bozen oder Innsbruck aufsuchen, was auch nicht weiter sei als in einer Großstadt von einem Ende zum anderen zu fahren. Abends kämen dann alle gerne wieder zurück in die kleinere Stadt mit der höheren Lebensqualität.

Überhaupt die Lebensqualität. Das Gesicht des Wahlbrixners verklärte sich. Noch nie habe er in seinem Leben eine solche Lebensqualität genossen. Er müsse sich das immer wieder bewusst machen um sich nicht einfach daran zu gewöhnen und diese Lebensqualität für selbstverständlich zu halten. Und genau hier, fügte er hinzu, beginne der Stress:
Als Bürger dieser Stadt müsse man sich einfach dafür einsetzen, das dies so bliebe, mit der Lebensqualität. Schneller als man denke, sagte er, sind solche Qualitäten verspielt, vermarktet, zugebaut, dem Renditedenken geopfert oder einfach Nachlässigkeiten anheim gefallen. Die Stadtränder zerfransten schon, die freie Landschaft würde bereits zersiedelt, der Verkehr sei schon unerträglich – auch wenn die Altstadt verkehrsberuhigt wurde. Es sei ein Kampf um den Erhalt der Urbanität mit guter Gestaltung, für die Bewahrung der Natur, gegen Lärm und Abgase, gegen den Abriss schöner alter Gebäude zugunsten spekulativer Neubauten, für den Vorrang der Kinder und Fußgänger im öffentlichen Raum und für die Erhaltung der Charakteristik der Stadt als Identifikation für ihre Bewohner. Aber es lohne sich, meinte er, weil auch das Engagement der Brixner für ihre Stadt und für die Lebensqualität ihres kleinen Paradieses herausragend ist. „Ubi bene ibi patria“ so schloss er, diese lateinische Sentenz sei hier durch drei Worte zu ergänzen – Est! Est !Est!. Also: Heimat Brixen. Nur logisch, dass sich ein Kreis engagierter Bürger für Brixen unter diesem Namen zusammengefunden habe.

Die Freunde nickten und wirkten nachdenklich. Sie beschlossen, sich das nächste Mal in Brixen zu treffen um die Behauptungen über das kleine Paradies Brixen selber an Ort und Stelle zu überprüfen denn bislang war noch keiner von Ihnen in der jung gebliebenen alten Bischofsstadt gewesen. Ein großer Fehler von Euch Bedauernswerten, meint der Brixner und hob sein Glas.

Andreas Gottlieb Hempel
(2840 Wörter / 19663 Zeichen mit Zwischenräumen)



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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