Alles ist Architektur
Sonntags pflegt der interessierte Bürger durch sein Stadtviertel zu spazieren und bleibt gerne vor den Neubauten stehen um sie näher zu betrachten. Da fällt manch kritisches Wort über einen harmlosen Garagenanbau, eine Gartenmauer, Balkone und andere Details, die vielleicht gerade nicht den persönlichen Geschmack des Bet-rachters treffen. Tiefergehende architektonische Kenntnisse zu einer begründbaren Ablehnung oder Zustimmung sind zwar selten vorhanden aber die Beurteilungen ob schön, hässlich, passend oder unmöglich sind schnell gefällt. Anschließend geht es mit der Familie ins Grüne, vielleicht über Mühlbach ins Pustertal. Die Untertunnelung des Ortes, in dem sich früher die Autoschlangen stauten, wird dankbar und in hohem Tempo durchfahren. Kein Wort aber über die abstruse Verschandelung des Tors zum Pustertal durch gewaltige Betonmauern, die völlig unstrukturiert mit Granitplatten be-klebt sind und durch ihren brutalen Eindruck den Ort selbst völlig in den Schatten stellen. Auch am Ende des Tunnels, wenn die gut restaurierte Ruine der Haslacher Klause ins Blickfeld kommt, regt sich der Bürger nicht darüber auf, dass diese mittel-alterliche Befestigung als Monument des Jahres 1809 im Asphaltsee der Straßen-einmündungen zu ersaufen scheint, im Hintergrund kakophonisch ergänzt durch ein weiteres technisches Bauwerk, die Kläranlage an der Rienz.
Was lernen wir daraus? Technische Bauwerke wie Straßen, Brücken, Elektromasten, Stauwehre oder eben auch Kläranlagen werden als schiere Notwendigkeiten einfach so ungestalt hingenommen während sich bei der kleinsten Hausbauaufgabe mehr oder weniger kompetente Baukommissionen über Gestaltungsfragen zerstreiten und manchen Bauwerber – zu recht oder zu unrecht – am ausgestreckten Genehmi-gungsarm verhungern lassen.
Unser Bürger war schon vorher freudig durch die Kehren oberhalb von Vahrn ge-kurvt, die durch den nördlichsten und wohl berühmtesten Kastanienhain des Eisack-tals geschlagen wurden. Auch dort wurde alles mit Granit beklebten Betonmauern und wahren Leitplanken-Orgien „verkehrssicher“ verbaut – kein Hauch von Respekt vor einem damit unwiederbringlich zerstörtem Naturdenkmal. Freie Fahrt dem freien Bürger – das erscheint als Moral des Straßenbaus. Entsprechend ist es um die Fahr-kultur der meisten Südtiroler bestellt: Raserei und Überholmanie ersetzen den ge-nussvollen Blick auf die noch schönen Landstriche. Straßenbau scheint zudem be-sonderen politischen Gesetzen zu gehorchen. Mit nichts kann sich ein Politiker bes-ser profilieren als mit dem Zerschneiden des roten Bandes, was weitere befahrbare Kilometer eröffnet. Der Dank des Bürgers an der Wahlurne ist ihm gewiss.
Im 19. Jahrhundert hatten sich die Ingenieure – meist Militärs – beim Bau etwa der Stilfserjochstraße sorgfältig um die einfachste und der Natur am besten angepasste Trassenführung bemüht. Und tatsächlich fügen sich diese und andere Passstraßen aus früherer Zeit geradezu harmonisch in die Hochgebirgslandschaft ein. Heute da-gegen werden aus der kleinsten Dorfzufahrt gewaltige Einschnitte in die empfindliche Südtiroler Landschaft. Krümmungsradien, Fahrbahnneigungen, Geschwindigkeiten und Überbreiten scheinen den Straßenbau mehr zu bestimmen als Respekt vor der Kulturlandschaft mit ihren Trockenmauern, Weiden und in die Hänge sanft eingefüg-ten alten Höfe. Die Neubauten stehen heute allerdings auf ähnlichen Sockeln wie die Straßen. Ganz zu schweigen von den Brücken, deren Gestaltung anscheinend nur auf einer ausreichenden Statik in Betonfertigteilen beruht. Berühmte Brückenbauer mit ihren hocheleganten und leichten Konstruktionen wie Jörg Schlaich, Santiago Calatrava oder Richard J. Dietrich sind für Südtiroler Ingenieure offensichtlich keine Vorbilder.
Nun scheint sich aber im Assessorat für Bauen der Landesregierung Nachdenklich-keit breit zu machen. Landesrat Dr. Florian Mussner hat die immer lauter werdende Kritik an den Strassenbaubrutalitäten nicht überhört und seit Architekt Dr. Josef March neben dem Hochbauressort auch die Abteilung Tiefbau als Direktor über-nommen hat, wird ganz offensichtlich umgedacht. Strassen- und Brückenbauten sol-len von Ingenieuren und Architekten gemeinsam mit Landschaftsplanern übernom-men werden. Landschaftsschutz und Gestaltung müssen gleichwertig neben Ver-kehrssicherheit treten. Monsterbauten wie die genannte Mühlbacher Unterfahrung sollen soweit wie möglich kaschiert werden. Neubauten werden nur noch durchge-führt, wenn Umbau oder Erweiterung wirklich nicht ausreichen. Am Mendelpass be-müht man sich um eine ästhetisch angemessene Verbesserung der schmalen histo-rischen Fahrbahn von 1882 durch den fast senkrecht abfallenden Fels. Die Stilfser-jochstraße erfährt Verbesserungen unter der Mitwirkung eines weltbekannten Archi-tekten, Kjetil Thorsen vom Osloer Büro Snoehetta. Seminare zur Gestaltung von Straßenbauwerken werden abgehalten und für Neubauten von Brücken werden Wettbewerbe mit Architekten und Ingenieuren durchgeführt. Wir sind gespannt und wünschen der Leitung des Ressort eine glückliche Hand im Sinne unserer Kultur-landschaft – denn alles ist Architektur, nicht nur Hochbauten.
Andreas Gottlieb Hempel
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