Donnerstag, 06.09.2007 | Das Unsichtbare in der Backsteinbaukunst

Guten Tag meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
liebe Frau Bürgermeisterin Dr. Wilcken
und
lieber Herr Kollege Prof. Gottfried Kiesow

Nachdem Sie vorher über die Physis des Backsteines sehr viel Interessantes gehört haben möchte ich Sie nun mit der Psyche dieses wunderbaren Baustoffes beschäfti-gen. Uns allen ist die Physis, der Körper, als Materie wohlbekannt. Sie kann gewo-gen, gemessen, geprüft, betastet, chemischen Reaktionen und endlosen Laborver-suchen unterworfen werden. Wir wissen alles über die Materie und verstehen sie so dennoch nicht.

Wir werden die Materie niemals ohne ihren Geist verstehen wenn wir sie nur mit dem Verstand begreifen. „Wenn Ihr’s nicht fühlt, so werd’ Ihr’s nicht erjagen“ sagte Goehe wenn es um das Wesen der Materie geht. Zu kurz ist der Arm der Wissenschaft, wenn sie den Geist der Dinge nicht erfasst.

Wir wollen deshalb einen Schritt ins Jenseits der Materie tun um in das unsichtbare Reich der Backsteinbaukunst zu gelangen. Eigentlich ist es unlogisch, dabei Bilder zu zeigen da man Unsichtbares ja nicht sichtbar werden lassen kann. Ich tue es den-noch um eine Rückerinnerung vom Unsichtbaren zum Dinglichen herzustellen.

Nach den Erkenntnissen der Physik ist ja Materie gewissermaßen gefrorene Energie, wie Einstein meinte. Auch die schwere Materie der Architektur wird als gefrorene Musik bezeichnet. Wasser tritt gleich in drei Aggregatzuständen als Entsprechung zu Geist, Seele und Körper des Menschen auf, dessen Wesen erst in der Vereinigung dieser drei Teil zu einer Einheit findet.

Erlauben Sie mir dazu noch einen Exkurs in das Wesen des Menschen ohne das sich der von mir beabsichtigte Bezug zum Unsichtbaren, zur Kunst, zur Backstein-baukunst nicht herstellen ließe:

Ich greife auf eine uralte Erkenntnis zurück, wenn der Menschen als eine Dreieinheit aus Körper, Seele und Geist geschildert wird, eine Erkenntnis, die jedoch über lange Zeiten zurückgedrängt wurde. Man sah – und sieht vielfach noch – den gravierenden Unterschied zwischen Seele und Geist nicht mehr und begnügt sich damit, dem phy-sischen Menschen den Innenmenschen gegenüber zu stellen, die Seele dem Körper, das Unterbewusstsein dem Wachbewusstsein. Damit kommt jedoch das Verhältnis und die gegenseitige Ergänzung der drei Wesensschichten nicht zur Geltung.

Der Körper ist wie schon gesagt der wissenschaftlichen Forschung zugänglich, gründlich durchforscht und jeder unterrichtete Mensch weiß heute, dass sein Körper
 das Ergebnis einer Evolution ist, die sich in jedem Einzelnen als weise geordneter Zellstaat wiederholt. In ihm ist nichts Unsichtbar und nichts Unendlich.

Die Seele ist zwar dem Namen nach jedem geläufig aber ihrem Wesen nach umstrit-ten, da nicht mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbar. Den Aussagen vieler Sensi-tiver nach entspricht sie jedoch in allen Einzelheiten dem Körper und ist mit ihm durch ein Kraftfeld, die Aura, bis in jede Zelle verbunden. Sie behält jedoch ein ge-wisses Eigendasein und besteht nach dem Tode ungeschmälert weiter – so kommt es, das die Seele im Sprachgebrauch mit dem Geist des Verstorbenen gleichgesetzt wird.

Wenn wir hier jetzt vom Geist des Menschen sprechen, dann ist im Zusammenhang mit dem Unsichtbaren auf das wir hinaus wollen, etwas ganz anderes gemeint.

Im Gegensatz zu Körper und Seele, die sich aus der irdischen Sphäre entwickeln kommt der individuelle Geist eines Menschen aus vorgeburtlicher Existenz aus geis-tigen Reichen hinab um – verbunden mit einer Seele und einem Körper sozusagen als Troika eine Strecke seines Daseins auf dieser Erde zuzubringen. Auch der indivi-duelle, unsterbliche Geist eines Menschen kann als unverwechselbare Strahlung ge-spürt werden. Ihn beschreiben wiederholt Mystiker aber auch als wirkliche Gestalt. Im Korintherbrief schreibt Paulus dazu:

„Welcher Mensch könnte wissen, was das Wesen des Menschen ist, wenn es nicht in seinem Inneren den menschlichen Geist gäbe? Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen sondern den Geist, der von Gott kommt.“

Sinn und Ziel dieser - wie russische Puppen ineinander stehenden Lebensgemein-schaft dreier Wesensteile - ist ihre völlige Einswerdung unter der Führung des Geis-tes. Dem kann man sich auf diesem kurzen Lebensweg nur annähern, die Vollen-dung dieses Vorganges geschieht über den Umweg des leiblichen Todes nach lan-gen Entwicklungsvorgängen im Jenseits mit dem, was im christlichen Glauben als die Auferstehung des Fleisches bezeichnet wird. Voraussetzung dafür ist die allerdings die Neugeburt im Geiste, wie es Christus gegenüber Nikodemus ausdrückt, also die Hinwendung zu Gott am Beginn dieser Entwicklung.

Sehr viel knapper konnte ich Ihnen diese Zusammenhänge nicht erklären und sie böten Stoff für lange weitere Erläuterungen aus dem Bereich zwischen Wissen und Erfühlen.

Aber wie kommen wir von dieser Begriffserklärung wieder hin zum Unsichtbaren der Backsteingotik?

Ganz einfach:

Über das himmlische Jerusalem. Der Stadt Gottes, die Stadt des Himmelreiches, die Stadt, der symbolischen Länge von 144 Ellen die auch als Zuflucht für die 144 Ge-rechten gilt. Auf diese Zahlen kommen wir später noch zurück. Zunächst vermuten wir einmal, dass das himmlische Jerusalem auch aus himmlischen Backsteinen er-richtet wurde. Warum sollte denn der Schöpfer für seine Stadt ein anderes Material verwendet haben als den Lehm aus dessen Form er doch bereits den Menschen durch das Einhauchen seines Geistes geschaffen hatte?

Auf seinem Lebenswege auf dieser Erde ist dem Menschen normalerweise alles vor-geburtliche Wissen genommen. Er muss bei seinem Dasein in der irdischen Materie praktisch wieder bei Null anfangen. Dennoch scheint allen Menschen eine Ahnung von der anderen, besseren Welt inne zu wohnen. Aus dieser Ahnung, einem inneren Bewußtwerden, das aus seinem Geiste kommt, verspürt er seine Religiosität, seine Rückbindung an die ewige Heimat.

„Seid fruchtbar und mehret euch, füllt die Erde und macht sie untertan!“ sprach Gott zu den Menschen in der Schöpfungsgeschichte. Er sagte nicht: „Macht sie Euch un-tertan!“ sondern „Macht sie untertan!“ was nichts anderes heißt: „Macht sie dem Geist, dem menschlichen Geist aus mir, Gott, untertan!“

Auf keinen Fall hat er gemeint, dass wir die uns anvertraute Erde so geistlos ruinie-ren und verkonsumieren , so, wie wir es heute tun und es bald bitter bereuen werden.

Mit anderen Worten:
Dem menschlichen Geist ist die Fähigkeit gegeben die tote und schwere Materie zum Leben zu erwecken, mit seinem Geist zu erfüllen und so aus ihrer Gottferne zu erlö-sen. Eine Aufgabe zu welcher der Mensch seinen Erdenweg geschickt wird.

Jetzt können wir mit ganz anderen inneren Augen das Unsichtbare nicht nur in der Kunst sondern auch in der Backsteinbaukunst betrachten:

Alle große Kunst gibt uns einen Abglanz geistiger Fähigkeiten und holt uns ein Stück aus unserer geistigen Heimat, von ihrer Schönheit, die hinter den materiellen Dingen liegt und diese auch bisweilen als zarter Abglanz durchstrahlt. Der menschliche Geist ist von ganz besonderer Ingenuität, wenn das Diesseits ihm besonders wenige und armselige äußere Hilfen bietet. Werfen Sie einen Blick auf die Lagune von Venedig und stellen Sie sich vor, es sei zur Zeit der Hunnenstürme im 5. Jahrhundert. In diese sumpfige Wasserlandschaft sind die Menschen geflohen und haben aus dem Nichts die vielleicht kunstvollste Stadt der Menschheitsgeschichte – Venedig - gebaut.

Aus Backsteinen.

Auch Torcello, die erste Stadt in der Lagune, war ganz aus Backsteinen, denn Lehm war der einzige brauchbare Baustoff im Flüssedelta. Backsteine für Häuser und Plät-ze, Dächer und Gassen, Paläste und Kirchen. Bezeichnenderweise ist von Torcello nur noch das geistige Zentrum vorhanden, die Basilika S. Fosca und das Baptisteri-um. Deutlicher könnte der Hinweis auf die geistige und religiöse Kraft nicht sein, die hinter Torcello und später hinter Venedig stand.

Wer sich heute Torcello mit dem Boot nähert wird unweigerlich angezogen und tief ergriffen von der geistigen Kraft, die diesem Topos geradezu magnetisch innewohnt. Die verlassene und aufgelöste Stadt mit ihrem erhaltenen kirchlichen Mittelpunkt lässt ihn etwas von dem ahnen, was die unsichtbare geistige Welt des Menschen als Gottes Ebenbild ausmacht. Wer Phantasie hat kann sich hier ein Traumbild des himmlischen Jerusalem - aus der Trostlosigkeit der Sümpfe drum herum durch Ima-gination entstanden – eindrucksvoll vorstellen. Der Mensch als Statthalter des Himm-lischen inmitten irdischer Armseligkeit.

Die Backsteinbaukunst zieht sich durch die gesamte Geschichte der ältesten Repu-blik Europas. Wer mit offenen Augen durch die Calli, Campi, Sortoporteghi und Terrà zieht, wird immer wieder die Wiederverwendung bereits schon genutzter Backsteine im Mauerwerk entdecken – äußerste Sparsamkeit bei üppigem Reichtum dieser Stadt, die, lange noch nach ihrer Blütezeit und höchsten Macht im 13. Jahrhundert, danach aber allmählich im Reichtum verdämmernd ihre Backsteinbauten schließlich mit istrischem Marmor verkleiden ließ. Venedig, zwischen Orient und Okzident muss dem mittelalterlichen Betrachter tatsächlich wie ein Abbild des himmlischen Jerusa-lem vorgekommen sein – mit seinen zahllosen Campanile spiegelnd über den Was-sern schwebend. Bestimmt war es ein innerer Zusammenhang, dass die Kreuzfahrer von hier zur Eroberung des irdischen Jerusalem aufgebrochen sind.

So trat das luxuriöse Leben dieser Stadt neben die Frömmigkeit der damaligen Men-schen, die in ständiger Furcht vor Verdammnis und Höllenstrafen lebten und meinten sich das himmlische Jerusalem durch Pilgerreisen, Kreuzzüge, Askese und Selbst-kasteiungen verdienen zu können. Das drohende Fegefeuer und die Aussicht wegen Sünde und unzureichender Buße in die ewige Verdammnis zu geraten brachte vor allem die Wohlhabenden dazu, große Geldmittel für den abbildhaften Bau des himm-lischen Jerusalems – sprich: großer Kirchenbauten zu spenden.

So ist es auch hier im Norden Deutschland entlang der Ostsee gekommen. Auch hier wurden die Hansestädte reich und die Gottesfurcht die wichtigste Geldquelle zur Fi-nanzierung der ungeheuren Kirchenbauten. Riesenhaft erhoben sie sich zwischen den meist ärmlichen Bürgerhäusern, für die lange Zeiten gerade mal Lehm und nicht einmal Backstein erschwinglich war. Ähnlich wie in der Lagune von Venedig war Na-turstein kostspielig von weither anzuliefern und der Backstein das gegebene Material für die Bauten zur Ehre Gottes und Abbild des himmlischen Jerusalems, in das man nach der leiblichen Auferstehung zu gelangen hoffte.

Deshalb lehnten sich auch die Bauten an die Vorstellungen des himmlischen Jerusa-lems an. Die Backsteinbaukunst spiegelt damit die unsichtbare, innere und geistige Wirklichkeit der Menschen jener Zeit wieder. Die Bauten sollten jene Wirklichkeit be-reits diesseitig bildhaft vorwegnehmen, in welche die Menschen nach Tod und Fege-feuer schließlich kommen würden, jene geistige und dennoch reale Welt des himmli-schen Jerusalems, die Jesu Jünger Johannes auf Patmos in seiner Offenbarung mit allen Einzelheiten schildert. Johannes gibt sogar die oben schon erwähnte Mauerhö-he von 144 Ellen an.

Wer sich mit der unsichtbaren Realität der Numerologie beschäftigt, wird wissen, das 12x12 = 144 eine besondere heilige Zahl ist. Sie symbolisiert in ihrer Quadratur das ganze Universum und in der Zahl selbst die erretteten Kinder Israels, d.h. die zu Gott zurückgekehrte Menschheit. Sie beruht astrologisch auf den zwölf Archetypen der Tierkreiszeichen und kehrt im Tageskreislauf der Stunden und im Jahresablauf der Monate wieder. Die Quersumme ergibt die Heilige Dreieinigkeit und sie enthält die beiden heiligen Zahlen 3, die Trinität, und 4, den Weltkreis der vier Himmelsrichtun-gen, die beide zusammen die 7 ergeben, die sieben Eigenschaften Gottes mit der Liebe in der Mitte und rechts den „weichen“ Eigenschaften Demut, Gnade, Güte und rechts den „harten“ Eigenschaften Allmacht, Gerechtigkeit, Weisheit – symbolisiert schon seit Urzeiten mit dem siebenarmigen Leuchter. Und nicht zuletzt kommen die 12 Apostel Christi dazu.

Die Gotik mit dem Bestreben der Transzendenz von Materie in Geist, von Welt und Himmelreich wollte dies vor allem in der Bewegung nach Oben ausdrücken. In vielen Kirchen ist versucht worden, sich der Mauerhöhe des himmlischen Jerusalems zu-mindest anzunähern. Die Kathedrale von Beauvais in Frankreich gilt als das höchste mittelalterliche Bauwerk und erreicht im Scheitel des Mittelschiffs ihres Chores knapp 47 Meter, was im französischen Fußmaß umgerechnet etwa die Zahl 144 ergibt. Der kühn geplante Chor stürzte allerdings beim ersten Ausrüsten zusammen, was vom gotischen Gewölbebau immer wieder berichtet wird, so auch 1398 in Rostock, aller-dings bei einer geringeren Gewölbehöhe von nur 31,5 Metern, was immer noch ei-nem heutigen zehngeschossigen Hochhaus entspräche. Diese technischen Leistun-gen mit den primitiven Arbeitsgeräten des Mittelalters sind nur denkbar bei den un-sichtbaren Energien, die hinter den geistigen Leistungen dieser Menschen gestan-den haben müssen. Diese Energien einer transzendentalen Vorstellung vom Himmel-reich müssen wir unbedingt ins Unsichtbare der Backsteinbaukunst einbeziehen, wenn wir die Materie eines einfachen Backsteines betrachten und gleichzeitig hier in St. Georgen in die Höhe schauen um staunend eine Entmaterialisierung des Raumes festzustellen.

Da ist er fast greifbar zu spüren, der Übergang vom Sichtbaren ins Unsichtbare, die Transzendenz von der Materie ins Geistige, die Körperlichkeit der Menschen, die das gebaut haben, ihr seelisches Empfinden und die geistige Ausstrahlung einer himmli-schen Heimat, die sie hier auf Erden anschaulich machen wollten. Für mich ein großartiges Sichtbarwerden einer unsichtbaren Welt, die hinter dieser Backsteinbau-kunst steht.

Nicht überall konnte man faktisch die himmlische Höhe von 144 Fuß schaffen, an die mit rund 44 Metern, also fast 140 Fuß Gewölbehöhe, in Deutschland nur noch der Kölner Dom – und auch nicht aus Backstein! – heranreicht. Baugrund, Windbelas-tung und andere technische Faktoren aber auch die Baukosten setzten dem theolo-gischen Ideal Grenzen, denen man aber durchaus beizukommen wusste. Eine Höhe allein ohne Raumverhältnisse, Proportionen, kann nämlich nur sehr schwer einge-schätzt werden. Es kam nun darauf an Raumproportionen zu schaffen, die mit der Kunst des Unsichtbaren das Gefühl zu vermitteln konnten sich in Raumverhältnissen
zu befinden, die dem himmlischen Jerusalem, dem überirdischen Maßstab, entspre-chen könnten.

Entscheidend wurden also die Raumproportionen, das Verhältnis von Breite zu Hö-he. Die vorher erwähnte Kathedrale von Beauvais mit der erreichten Idealhöhe der Mauer des himmlischen Jerusalem von 144 Fuß hat eine Mittelschiffbreite von fünf-zehneinhalb Meter und damit eine Öffnungsproportion von 1:3. Die Backsteinkirche mit dem höchsten Innenraum in Mecklenburg-Vorpommern, die Nikolaikirche hier in Wismar, weist zwar nur eine Scheitelhöhe der Gewölbe von 37 Metern auf dafür ist das Mittelschiff auch nur zehn Meter fünfzig breit. Das ergibt mit einer steileren Pro-portion von 1:3,5 eine Raumhöhe, die steiler anmutet als sie tatsächlich ist. Die Raumproportion der Nikolaikirche verhält sich damit genauso wie der vorher erwähn-te Kölner Dom.

Nicht nur mit der schlank aufstrebende Höhe wollten die Menschen der Gotik die Schönheit des jenseitigen Lebens darstellen. Das himmlische Jerusalem war ja nicht von dieser Erde sondern, durch die Kirchen dargestellt, das Abbild eines vollkomme-nen Jenseits, einer herrlichen himmlischen Welt. Dort sollten irdische Materialen und Gesetze wie die Schwerkraft nicht mehr gelten. Zur scheinbaren Aufhebung der irdi-schen Schwerkraft lösten die Baumeister die schweren Stützpfeiler in Bündel aus elegant schmalen Diensten auf, die durch ihre Unterteilung über die eigentliche Pfei-lerstärke hinwegtäuschen. Auch die schwer wirkenden massiven Backsteinwände wurden in Fensterflächen mit schrägen Laibungen aufgelöst.

Das Material Backstein wurde durch Freskenmalerei überdeckt die auch zu den bun-ten Glasflächen vermittelten und somit die heutige starke Hell- und Dunkelwirkung zwischen Blendfenstern und Lichtquellen abmilderten. Alles geriet in einen optischen Schwebezustand, entfernte sich mehr und mehr von den klaren Materialstrukturen und vermittelte dem ehrfürchtig knieendem Gläubigen in den zarten weißen Schwa-den des Weihrauchs bereits das Gefühl des Überganges in eine bessere und schö-nere Welt. Man könnte fast sagen, dass das Unsichtbare der Transzendenz sichtbar wurde.

Das Problem für die gotischen Backsteinbaumeister war bei der weitgehenden Auflö-sung der tragenden Teile natürlich die Lastabtragung der Gewölbe, die mit ihren Kreuzrippen schwer auf den vielfach geöffneten Wänden auflasten.  Dadurch schien die irdische Schwerkraft als Gleichgewicht zwischen Last und Stütze nahezu aufge-hoben und der Kirchenraum wirklich ein Abglanz himmlischer Räume in denen die Gesetze der schwerfälligen irdischen Materie nicht mehr gelten – Engelswelten.

Technisch möglich wurde dieser sicher für die damaligen Zeiten überwältigende In-nenraumeindruck – er ist es ja für den Empfindsamen auch heute noch! – durch das Ableiten des Gewölbeschubs nach außen über von Innen nicht sichtbare Strebebö-gen auf die Strebepfeiler vom Chorumgang und den Seitenschiffen. Eine von geisti-gen Wirklichkeiten aus erdachte Überwindung irdischer Schwere!

Noch einmal zurück in die Backsteinstadt Venedig:
Stellen Sie sich vor, wie die Seeleute aus dem offenen Meer der Adria in die ruhige Lagune einfuhren und auf den Landeplatz der Piazetta zusteuerten, den Dogenpalast und die Kuppeln der Markuskirche vor sich, gleichsam über der silbern glänzenden ruhigen Wasserfläche schwebend. Für einen Menschen der Gotik im 13. Jahrhundert muss das geradezu ein schockierendes Erleben gewesen sein. Der Backsteinbau des Dogenpalastes mit seinen fast geschlossenen schweren Obergeschossen schien – aller Schwerkraft widersprechend – auf den gotischen Bögen zweier luftiger Stüt-zenreihen zu schweben, die anscheinend im Wasser standen, alles überragt von den filigranen Formen unter den Kupfergedeckten Kuppeln des Domes, die ebenfalls im Licht zu schwimmen schienen. Das war schon eine illusionistische Darstellung weltli-cher und kirchlicher Macht, die aus einer anderen Welt zu kommen schien!

Ähnlich wird es unseren Matrosen gegangen sein, einfachen Menschen auf einem kleinen hölzernen Schiff, die an Land in armseligen Katen hausten. Ihnen wird das Herz andächtig gestockt haben wenn sie auf den Alten Hafen Wismars zuhielten und die gewaltigen Massen von gleich drei Backsteinkirchen aus dem Morgendunst auf-tauchten und über der fast gleichmäßig hohen Reihe der Bürgerhäuser zu schweben schienen. Das himmlische Jerusalem! In die Knie!

Lassen Sie mich zum Schluss dazu einige Sätze aus dem schönen Buch „Backstein-gotik“ von Gottfried Kiesow zitieren:

Für uns aufgeklärte Menschen, die wir allen virtuellen Illusionen moderner Digital-technik ausgesetzt sind, mag sich das Bild einer überirdischen Welt beim Betreten einer gotischen Kirche nicht mehr erschließen. Man stelle sich aber im Mittelalter ei-nen Bauern aus der ländlichen Umgebung vor, der zum erstenmal eine der Back-steinkathedralen von Wismar, Rostock, Stralsund oder Greifswald betrat als diese noch ihre vollständige Ausmalung von Wänden und Gewölben besaß, dazu durch die Farbfenster in ein mystisches Licht getaucht war. Musste er nicht glauben, bereits im Himmlischen Jerusalem angekommen zu sein? Die den Anblick aber täglich gewohnt waren, nahmen ihn als Verheißung für das Leben nach dem Tode“

Ich möchte hinzufügen, dass sich auch uns noch heute eine innere geistige Perspek-tive darbietet, die weit über die technische Leistung der Backsteinbaukunst hinaus-führt. Es öffnet sich der Blick auf das Ziel der Sehnsüchte des hier auf dieser Welt immer unbehausten Geist des Menschen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit zu diesem etwas ungewöhnlichen Thema.
Auf Wiedersehen.

Andreas Gottlieb Hempel
Wismar, den 6. September 2007



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Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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