Donnerstag, 23.08.2007 | Kulturlandschaft (z)erfahren?

Guten Tag, meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Landesrat Dr. Mussner,
lieber Herr Dr. March
und
liebe Kollegen aus der Architektenschaft

„Der Weg ist das Ziel“ ist heute ein modischer Satz. Kein Wochenendseminar zur Sinn- und Selbstfindung, das etwas auf sich hält, kommt ohne ihn aus. Eine mundge-rechte Formulierung für eine orientierungslose Zeit, die sich bestenfalls materielle Ziele setzt. Die Zeitgenossen fühlen sich meist keinen geistigen Werten mehr ver-pflichtet, die ein Lebensziel bedeuten könnten. Deshalb wird allein der Weg schon zum Ziel erklärt, ganz gleich wohin er führt. Voller Geschäftigkeit sitzen die Men-schen in ihren Fahrzeugen und betreiben ziellose Hektik indem sie herumfahren. Oft nur um die innere Leere zu betäuben. Sonntagsausflüge und Urlaubsfahrten geben ein beredtes Zeugnis davon aber auch mancher Jugendliche, der auf seinem Moped durch die Straßen lärmt. Das Ziel des Lebensweges, der Tod, wird schon gar nicht erwähnt – ein gesellschaftliches Tabu. Dabei sind es gerade die Wege, die Straßen, die Autobahnen, die den Tod täglich vor Augen führen. In Europa kommen z.B. jähr-lich etwa ebenso viele Menschen im Straßenverkehr um, wie amerikanische Solda-ten im ganzen Vietnamkrieg – nämlich über 50.000.

Kein Wochenende auch in Südtirol an dem nicht Motorradfahrer mit ihren Maschinen vom Weg abkommen, entgültig. Gerade die kurvenreichen Bergstraßen sind die We-ge, die ihnen zum Ziel werden. Vor ein paar Tagen hörte ich in einem „Bikerstopp“, - so nennen sich heute schlecht besuchte Gaststätten gerne um Motorradfahrer anzu-locken, ein Grund mehr für andere um nicht dort einzukehren! - wie sich kräftige Rit-ter in Lederrüstungen der Harley-Davidson-Truppe ihre Heldentaten in Kurven- und Fahrtechnik erzählten. Als es darum ging, welche Strecke zu welchem Ziel sie denn nun gefahren seien, waren sie sich tatsächlich unsicher, ob es das Penser-, das Sel-la- oder das Grödnerjoch gewesen sei. Aber immerhin Kurven vom Feinsten, schwärmten sie. Von der Landschaft kein Wort.

Sie fragen sich jetzt, was das denn nun mit dem heutigen Thema zu tun habe?

Zunächst soviel, das diese Harley-Davidson-Truppe nichts, aber auch gar nichts von der Kulturlandschaft, die sie mit ihren Maschinen zudröhnte, erfahren hat.

Damit sind wir wirklich bei dem Thema, das ich mir gestellt habe:

Kulturlandschaft (z)erfahren?

Ein Thema, bei dem ich zum Abschluss der heutigen Veranstaltung ein wenig über die Hintergründe des Straßen- und Brückenbaus reflektieren möchte. Zum Beispiel darüber, was denn die Kulturlandschaft bedeutet, in die wir Architekten und Ingenieu-re so schonend wie möglich eingreifen sollten. Wenn wir aber offenen Auges und ehrlich die Ergebnisse unserer Bemühungen anschauen, dann entdecken wir beim Straßenbau selten Kultur und immer weniger Landschaft, eine Landschaft, die wir in ihrer Ursprünglichkeit oft gar nicht mehr erfahren können weil sie bereits so zerfahren ist.

Kulturlandschaft ist, wie der Name schon sagt, im Gegensatz zur Naturlandschaft eine von Menschenhand kultivierte Landschaft. Eine Landschaft, die meist über Jahrhunderte bebaut und gepflegt wurde. Mit Rebterrassen, Kornfeldern, Obstgärten, Wiesen und Waldstücken und den darin sich einfügenden Höfen, Dörfern und Städ-ten aber auch mit den dies alles verbindenden Wegen und Straßen. Südtirol verfügt als eine Alpenregion nur über sehr wenig Kulturlandschaft. Nach ASTAT sind es ge-rade einmal 7%! 87% der Flächen des Landes liegen über der tausend Meter Grenze – was zwar reizvoll für die Konstrukteure von Passstrassen ist, wie wir schon gehört haben, aber zur landwirtschaftlichen Kultivierung – abgesehen von Forst und Almen - sowie zum ständigen Siedeln eignen sich nur die niedrigeren Bereiche unter tausend Höhenmetern.

Deshalb muss mit dem geringen Anteil der Kulturlandschaft überaus sorgfältig um-gegangen werden – das Zerfahren und Zersiedeln könnte das Ende für diese bisher überaus schöne Kulturlandschaft Südtirols bedeuten.

Nach dem rigorosen Verbot zum Bauen im landwirtschaftlichen Grün unter dem dafür verdienstvollen Landesrat Benedikter hatte sich bis in die 1990er Jahre mit steigen-dem Wohlstand ein enormer Nachholbedarf für das Bauen angestaut. Die Lockerung des Bauverbotes führte zu einem wahren Dammbruch. Die sogenannte qualitative Erweiterung brachte gigantische quantitative Erweiterungen, die man weniger vor-nehm getrost als die schiere Zersiedelung der Kulturlandschaft bezeichnen kann. Nie wurde soviel zuvor in Südtirol gebaut. Man schätzt, dass im vergangenen Vierteljahr-hundert mehr gebaut wurde als in allen Jahrhunderten zuvor.

Die notwendige Erschließung der Einzelbauten, Hotels, Baugruppen, Gewerbegebie-te usw. hatte auch einen gewaltigen Boom an Straßenbauten zur Folge. Mit dem wachsenden Wohlstand stieg auch die Zahl, Größe und Geschwindigkeit der Privat-fahrzeuge. Auch dem wurde mit entsprechenden Straßenneubauten, Verbreiterun-gen, Ortsumfahrungen teilweise mit langen Tunnelstrecken usw. entsprochen. Eine veränderte Verkehrspolitik begünstigte zudem den Schwerlastverkehr. Das hatte die Verlagerung des Gütertransportes auf die Straße zur Folge. Schienenverbindungen wurden deshalb in großem Umfang stillgelegt. Die Grödnerbahn, die Strecke Bozen-Kaltern, die Fleimstalbahn und die Linie ins Ahrntal wurden abgebaut, die Vinschger-bahn 1991 eingestellt aber schließlich 2005 modernisiert wiedereröffnet. Der große Erfolg, den die Vinschgerbahn seitdem beim vorher vom Stau gebeuteltem Publikum hat spricht für den dringenden Bedarf an alternativen Verkehrsmitteln.

Hier sei der Hinweis erlaubt mit welchen Kosten eine Durchschnittsfamilie für mehre-re Fahrzeuge belastet wird, wenn Vater, die Mutter und womöglich mehrere erwach-sene Kinder in alle Himmelsrichtungen zur Arbeit müssen und auf Auto, Motorrad und Moped angewiesen sind um dort überhaupt hinzukommen. Dazu steht der Auf-wand für den Fahrpreis im Bus oder Zug in keinem Verhältnis. Wer zu den heutigen Kosten der privaten Vollmotorisierung noch die über Steuergelder der Allgemeinheit – ob motorisiert oder nicht – aufzubringenden Gelder und womöglich noch die durch Emissionen entstehenden Umweltschäden dazu rechnet, der kann nur den Kopf über die Präferenzen in unserer Gesellschaft schütteln, von der in Südtirol schätzungswei-se 15-20% bereits an der Armutsgrenze lebt.

Für das traditionelle Durchgangsland Südtirol kommt zum eigenen Verkehrsaufkom-men - das ja relativ einfach zu erfassen wäre - ein steigender Handelsaustausch zwi-schen Nord und Süd. Derzeit werden jährlich 28 Millionen Tonnen Güter auf der Brennerautobahn mit fast zwei Millionen Lastwagen transportiert. Tendenz stark stei-gend. Bei 40 Millionen Tonnen und drei Millionen Lastwagen wird Stopp-and-Go Ver-kehr auf der Brennerautobahn A22 herrschen. Rien ne va plus. Nur 11 Millionen Tonnen transportiert dagegen die Eisenbahnlinie auf der Brennerstrecke mit völlig veraltetem Rollmaterial der Italienischen Staatsbahn. Deshalb wird heftig über den Nutzen des bereits begonnenen Bau des Brennerbasistunnels zur Verringerung der aktuellen Verkehrsbelastung diskutiert. Er soll nach seiner voraussichtlichen Fertig-stellung mit den erforderlichen Zulaufstrecken im Jahr 2025 die dann erwarteten 45 Millionen Tonnen Fracht teilweise so aufnehmen, dass sich der Schwerlastverkehr auf der Brennerautobahn wieder auf den heutigen Stand reduzieren könnte. Also auch in Zukunft keine wirkliche Entlastung des von Emissionen gebeutelten Tales sondern gleichbleibende Werte.

Das sind keine rosigen Aussichten für das zerfahrene Eisacktal mit seinen von Gift-schwaden und Lärm geplagten Bewohnern, die sich zudem vor den zu erwartenden Belastungen während der Bauzeit des Brennerbasistunnels und den daraus entste-henden Landschaftsveränderungen fürchten.

Eine wirkliche Entlastung vom Verkehr könnte nur durch eine völlig veränderte Pro-duktions- und Angebotssystematik der Wirtschaft erfolgen, bei der die Herstellung von Waren an der Stelle erfolgt wo auch die Rohstoffe vorhanden sind um nicht die Teilprodukte mehrfach quer durch Europa zu karren und dabei die Straßen für eine kostenlose just-in-time Lagerhaltung zu nutzen. Das ist nur eine Komponente. Ver-ändertes Verbraucherverhalten und Konsum nach jeweils örtlichem Angebot z.B. bei Obst und Gemüse kommen ebenso dazu wie das Verbot schwere Rohstoffe auf der Straße zu befördern. Das Containersystem, das schon lange im Schiffsverkehr üblich ist könnte auf Schiene und Straße so organisiert werden, das Ferntransporte auf der Straße entfallen und die Zulieferung vom nächsten Frachtbahnhof zum Kunden auf kleinen Speziallastern vorgenommen wird. Wer dagegen hält, dass dann einzelne Waren teurer würden, dem kann man nur die gesellschaftlich relevanten Globalkos-ten des heutigen Systems inklusive Umweltschäden entgegenhalten um zu einer fai-ren Kostenrechnung zu kommen.

Zudem wird nicht nur das Eisacktal sondern ganz Südtirol bekanntlich vom Verkehr eines zwar einträglichen aber auch belastenden Tourismus heimgesucht. 25 Millio-nen Übernachtungen bedeuten ca. 10 Millionen zusätzliche Fahrzeuge im Jahr, die vom Südtiroler Straßennetz aufgenommen werden müssen. Zudem hat sich die Auf-enthaltsdauer immer mehr verkürzt – auf etwa dreieinhalb Tage im Schnitt – was ei-ne erhöhte An- und Abreisefrequenz verursacht.

Was dieser Wahnsinnsverkehr für den Tourismus bedeutet kann zur Zeit schwer ab-geschätzt werden. Überwiegend suchen die Gäste Südtirols Ruhe und Erholung. Wandern in einer intakten Landschaft – Kulturlandschaft und Naturlandschaft – steht ganz oben auf der Wunschliste. Was ist, wenn diese Landschaften infolge Zerfah-rung und Zersiedelung ihre bisherige Attraktion verlieren? Wenn die anfahrenden Menschenmassen zu bestimmten Jahreszeiten wie ferragosto, Christkindlmarkt, Törggelen und Apfelblüte weder Ruhe noch Erholung zulassen sondern nur noch quälenden Trubel bedeuten? Auch die Begeisterung für Events derjenigen, die sich nicht mehr selbst beschäftigen können und ständig animiert werden müssen hat dort ihre Grenzen, wo man nur noch im Stau steckt und die im Werbeprospekt als unbe-rührt angepriesene Kulturlandschaft sich als Blechsee entpuppt. Schon heute fühlt man sich von den mit reiner Luft, Ruhe, unberührter Natur und alpinen  Menschen in bäuerlicher Kleidung werbenden Hochglanzprospekten und Webseiten an der Nase herumgeführt wenn man sich beispielsweise am Grödnerjoch zwischen röhrenden Motorradrudeln, unzähligen parkenden Autos auf den Almwiesen und überfüllten Gaststätten in hässlichster Bauweise wiederfindet wo nur die Karikatur Südtiroler Kü-che und Gastlichkeit geboten wird. Lange kann das nicht mehr gut gehen und man wird nur noch die Gäste haben, die das auch verdienen und die man sich damit ver-dient hat.

Noch einmal Kulturlandschaft:

Die Kulturlandschaft Südtirols die sich nicht nur in einer sorgfältig kultvierten Land-schaft darstellt sondern über bedeutende Architekturen und Kunstwerke verfügt, ist nicht ohne Straßen denkbar. Immer schon fand ein lebhafter Austausch zwischen Nord und Süd über den niedrigsten Übergang des Alpenhauptkammes, den Bren-nerpass, statt. Der Warenverkehr der Kaufleute sorgte für Wohlstand und zog Künst-ler und Architekten mit sich. Das urbane Gefüge der Städte entlang der Route hätte sich ohne Straßen nicht entwickeln können.

Das Reisen früher zu Fuß, im Sattel oder mit der Postkutsche war zwar beschwerlich aber beschaulich. Davon zeugen heute noch viele stattliche Gasthöfe, die einst als Poststationen dienten. Die Reisenden brachten neben Waren auch die Künste mit. Dürer zeichnete in Klausen, Matthäus Günther schuf Deckengemälde in den Kirchen von Gossensass, Sterzing und Neustift, Goethe beschrieb seinen Weg durch das Eisacktal und gedachte der Minnesänger Walther von der Vogelweide und Oswald von Wolkenstein. Mozart musizierte in Brixen und berühmte Baumeister brachten die neuesten Bauformen mit sich. Den Baustil der Städte entlang Eisack, Inn und Salz-ach lässt sich von Auer bis nach Görlitz weit im Osten verfolgen und erfahren. Niko-laus von Kues, vom Rhein nach Brixen berufen, wurde als Fürstbischof Cusanus ei-ner der bedeutensten geistigen Führer der Bischofsstadt. Die zahlreichen zum Teil einzigartigen Zeugen von Kunst und Kultur können heute noch als eine Kulturland-schaft bewundert werden, die nur durch den Austausch über sichere und gepflegte Straßenverbindungen entstehen konnte.

Wege sind also nicht etwa das Ziel gewesen sondern führten immer zu einem Ziel. Niemand wäre sinnlos in der Gegend herumgefahren. Wege und Straßen könnten heute allerdings auch wieder ein Teil der Kultur und unserer Lebensqualität werden wenn sie in ein ganzheitlich betrachtetes, vernetztes System von Ökonomie, Ökolo-gie, sozialer Bedingungen und Kultur eingebunden würden. Zunächst erscheint der Straßenbau heute nicht mit diesen vier Faktoren vernetzt und wird offensichtlich nicht ganzheitlich betrachtet. Er erfreut sich vielmehr einer weithin unangetasteten Sonder-rolle.

In der Ökonomie erscheint der Straßenbau geradezu als ein Lieblingskind der Wirt-schaft und Politik. Nirgendwo macht ein Politiker mehr „bella figura“ als beim Zer-schneiden blauer oder roter Bänder bei Blasmusik, Medienpräsenz und Freibier vor einem gerade zu eröffnenden Straßenteilstück. Wieder ein paar Kilometer mehr freie Fahrt dem freien Bürger, dessen Dank auf dem Stimmzettel erwartet wird. Dank ist ihm auch von der Bauwirtschaft gewiss, denn nirgendwo können soviel Geldmengen so rasch verschwinden wie im Kies des Untergrundes, aus dem auch der Beton der Brücken hergestellt wird und in Quadratkilometern glattgewalzten Asphaltes. Der ständige Weiterbau und Unterhalt der Straßen garantiert zugleich eine risikofreie Dauerbeschäftigung für mehr Maschinen als Menschen mit dem Resultat goldener Unternehmernasen.

Die Ökologie ist dagegen ein Stiefkind der Politik trotz aller gegenteiligen Beteuerun-gen in den Sonntagsreden. Da wird das Pustertal zum „Klimatal“ ernannt – was im-mer das ist! – und gleichzeitig die Rienz für Millionen im Talgrund verlegt damit neue Straßen dort asphaltiert werden können wo bisher die berühmten Pusterer Kartoffeln herkamen. Mit einem gigantisch-ungeschlachten Kreuzungsbauwerk wird die Land-schaft vor einem der schönsten Ensembles des Landes vor der Sonnenburg, ja, man kann nur sagen: versaut. Das alles mit bestem Komfort der Kurvenradien und Fahr-bahnbreiten, die selbstverständlich zu viel zu schnellem Fahren verführen während der Zug der Pustertalstrecke maximal stündlich verkehrt, die Bahnhöfe ungepflegt und Verspätungen an der Tagesordnung sind. Die gegenüber dem Individualverkehr ökologisch soviel günstigere öffentlichen Verkehrsmittel machen ohne Taktfahrplan, kompliziertem Fahrscheinverkauf, vielfach fehlenden Unterstellmöglichkeiten und anderen Unbequemlichkeiten die Benutzer zu Masochisten. Kein Wunder, dass in den Zügen und Bussen fasst immer gähnende Leere herrscht und ihnen der peinli-che Geruch der Armut jener anhaftet, die sich kein Auto leisten können während auf der Pustertaler Staatsstraße undiszipliniert rasende und überholende Kamikazefahrer dem Ruf der Straße als „Todesstrecke“ alle Ehre machen.

Auf die sozialen Bedingungen nimmt der Straßenbau nur dann Rücksicht wenn es sich um die Gruppe der Autofahrer handelt. Während diese das Vergnügen des Fah-rens und des Komforts höher einschätzen als die davon ausgehenden Emissionen so müssen Kinder, Alte und Bedürftige, für die ein Auto unerschwinglich ist, sich mit dem Lärm von Reifen und Motoren sowie der abgasgeschwängerten Luft begnügen. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ist da bereits entstanden und sie dürfen einmal ra-ten, wer da unterprivilegiert ist. Wenn soziale und kulturelle Einrichtungen ebenso vorhanden und gepflegt wären wie heute asphaltierte Straßen bis hinauf zur letzten Almhütte, dann ginge es vielen Menschen in diesem Lande besser. Einmal ganz ab-gesehen vom Sozialneid derer, die im Kleinwagen ständig fürchten müssen vom Kuhfänger eines jener protzigen und benzinschluckenden Geländewagen aufgega-belt zu werden. Fahrzeuge, die sich geradezu als männliche Potenzverstärker einge-bürgert haben ohne irgendeine Rücksicht auf den immer geringer werdenden Platz oder die steigenden Benzinpreise.

Und ist durch die fahrtechnisch perfekt ausgebauten Straßen etwa eine Fahrkultur entstanden? Beileibe nicht! Trotz der europaweit strengsten Strafen für Fehlverhalten im Straßenverkehr hat sich wegen weithin fehlender Kontrollen eine Art Jeder-gegen-Jeden Nahkampfhaltung auf Südtirols Straßen entwickelt. Dieser Fahrstil kann als eine gute europäische Mischung bezeichnet werden: von den Holländern die verzö-gerte Reaktionsfähigkeit, von den Deutschen die Raserei, von den Engländern das Fahren auf der linken Spur – der Autobahn! – und von den Napoletanern die völlige Missachtung der Straßenverkehrsordnung. Wer unbedingt den Freitod auf der Straße sucht findet ihn am ehesten auf dem Zebrastreifen. Jede Woche liest man in den „Dolomiten“ wie dort alte und gebrechliche Menschen oder Kinder einfach umgefah-ren werden. Durchgezogene Mittelstreifen laden regelmäßig zum Überholen vor un-übersichtlichen Kurven ein. Im deutschen Reiseführer Marco Polo Südtirol wird unter der Überschrift „Bloß nicht“ dringend davor gewarnt sich mit Südtiroler Autofahrern auf Wettfahrten einzulassen. Kein gutes Image!

Aber es gilt neben einer zivilisierten Fahrkultur noch eine ganz andere Kultur für den Straßen- und Brückenbau zu entwickeln:

Die der sensiblen Einbindung in die Kulturlandschaft. Da herrscht dringender Hand-lungsbedarf. Hochbauten unterliegen längst zahlreichen Kontrollen in der Gestaltung auch hinsichtlich ihrer Einfügung in Ensembles, Landschaft und Ortsbild. Baukom-missionen und Gestaltungsbeiräte wachen mehr oder weniger intensiv darüber, je nach politischem oder wirtschaftlichen Einfluss des Bauwerbers, wie es bisweilen scheint. Dazu gibt es auch eine engagierte Lobby in der Öffentlichkeit und den Me-dien, wenn das erträgliche Maß an Kubatur, Maßstab oder Kitsch überschritten wird. Architektenwettbewerbe werden vermehrt und erfolgreich ausgeschrieben um gute städtebauliche und architektonische Lösungen zu finden. Eine breite Diskussion um Baukultur hat sich endlich auch in unserer Region entwickelt. Das hat zu einer Sen-sibilisierung für die Qualität von Baukunst geführt. Aber auch zu einer spürbaren Verbesserung der Kreativität der Architekten. Ähnlich wie im Weinbau wo sich Quan-tität zu Qualität unter der engagierten Arbeit einer jungen Winzergeneration verscho-ben hat. Südtirol ist zu einem Spitzenreiter im Umbau und der Umnutzung histori-scher Gebäude geworden. Die Ausstellung und die Publikation „Auf Gebautem Bau-en“ weisen dies eindrücklich nach. Südtirol beginnt – wenn auch mit etwas Verspä-tung – zu einer Destination für Architektenreisen auch zu moderner Baukultur zu werden.

Straßenbau hatte bisher nur eine doppelte Lobby: die der Tiefbaufirmen und der Au-tohersteller. Deren Philosophie war schon von jeher die, dass der Bau neuer Straßen alle Verkehrsprobleme lösen würde. Freie Fahrt dem freien Bürger. Während ver-sucht wird Neubauten sensibel in die Kulturlandschaft einzufügen schneiden sich Straßen brutal in die Hänge hinein oder werden auf Aufschüttungen geführt, deren Betonstützwände mit klobigen Granitbrocken beklebt werden. Leitplanken und Ge-länder sind so massiv, dass sie auch Panzer aufhalten können und sind entspre-chend brutal gestaltet. Niemand fragt nach Gestaltung. Der freie Bürger ist motori-sierter Verkehrsteilnehmer wie wir fast alle und freut sich in erster Linie über unge-hemmtes Gasgeben. Gestaltung ist dabei für ihn offenbar ganz überflüssig.

Gestaltung bei neuen Straßenführungen? Das interessiert heute fast niemanden. Noch nie habe ich autofahrende Bürger sich derartig negativ über die Gestaltung ei-nes Straßenstücks oder einer Brücke äußern hören wie dies Spaziergänger in Neu-bauvierteln über Häuser regelmäßig tun. Dabei beeinflusst beides unsere Kulturland-schaft entscheidend. Verkehrsbauwerke sind genauso Architektur in der Kulturland-schaft wie alles andere Gebaute, von der Weinbergterrasse aus Trockenmauerwerk bis zur Aussichtskanzel in den Gärten von Trautmannsdorf. Ganz zu schweigen von den Brücken, deren ästhetische Gestaltung in der Moderne von Robert Maillart über Richard J. Dietrich bis Jörg Schlaich und Santiago Calatrava entscheidend zur Über-höhung von Kulturlandschaften beitragen können. Gerade mal eine ausreichende Statik in Beton zu gießen genügt einfach nicht um den besonderen Situationen einer Kulturlandschaft gerecht zu werden.

Wir können daher die Initiative von Ressortdirektor Josef March nur begrüßen, wenn er Architekten, Ingenieure und Landschaftsarchitekten zusammenbringen möchte um künftig auch aus dem Straßenbau Landschaftsarchitektur und aus dem Brückenbau Ingenieurbaukunst mit hohem gestalterischen Anspruch werden zu lassen. Architek-ten, Ingenieure und Landschaftsplaner müssen dabei zu einer Synthese ihrer Leis-tungen kommen um gerade in Südtirol der so schönen aber auch schon so geschun-denen Kulturlandschaft gerecht zu werden. Aber nicht nur dieser. Auch die großartige Naturlandschaft unserer Region verträgt einfach keine brutalen Eingriffe. Nicht nur aus der Sicht der Natur, die bekanntlich sich bei unbedachten Eingriffen mit Muren, Überflutungen oder Trockenheit rächt sondern auch aus der Sicht der Naturfreunde, die eine durch schlecht gestaltete Verkehrsbauwerke gestörte Naturlandschaft zur Erholung künftig meiden werden – für eine Region, die vom Tourismus lebt eine Ka-tastrophe.

Es sollten also für künftige Verkehrsbauwerke in diesem schönen Land nicht mehr die billigsten Angebote zur Beauftragung von Straßen- und Brückenbauwerken füh-ren sondern die preiswertesten. Preiswert kann eine Lösung nur sein, wenn sie alle Parameter zukunftsfähig und nachhaltig bedenkt. Deshalb ist sie möglicherweise zu-nächst in der Investition teurer aber langfristig preiswerter als die billigste Lösung. Und Gestaltung kann man nicht nur in Geld messen. Schönheit ist kein messbares aber ein empfundenes Gut, das allen zugute kommt und vermisst wird, wenn es fehlt. Um preiswerte Lösungen in diesem Sinne zu erhalten braucht es ebenfalls Wettbe-werbe wie bei den Architekten im Hochbau. Wettbewerbe, die den Auftraggeber und die Öffentlichkeit in ihren Ergebnissen davon überzeugen können, das der Begriff Kultur nicht aus dem Wort Kulturlandschaft gestrichen wird.

Alles das muss in ein Gesamtkonzept der Regionalplanung eingefügt werden, das nicht nur alle Verkehrswege umfasst sondern auch mit dem öffentlichen Verkehr auch auf der Schiene abgestimmt sein sollte. Wie im Hochbau sollte auch beim Stra-ßenbau zunächst dem Umbau der Vorzug gegeben werden um Landschaft und Res-sourcen zu sparen. Auch nach anderen Möglichkeiten könnte gesucht werden um landschaftsschonend zu verfahren. Dazu ein Beispiel aus unserer Region – leider eines, das nicht so gelaufen ist wie es hätte sein können:

Vom Brixner Vorort Milland führte jahrzehntelang eine Seilbahn über die Fraktion St. Andrä auf den Brixner Hausberg, die Plose. Mit der Klimaerwärmung war es Schluss mit den Skiabfahrten bis hinunter ins Tal und die Talstation wurde nach St. Andrä hinauf verlegt. Dazu war ein großzügiger Ausbau der Bergstraße von Milland nach St. Andrä erforderlich. Dies bedeutete nicht nur erhebliche Eingriffe in die liebliche Mittelgebirgslandschaft mit granitverbrockten Stützmauern, Geländern usw. sondern auch einen erheblich gesteigerten Verkehr. Die morgendliche und abendliche Rallye Milland – St. Andrä mit jeweils meist nur einem Berufstätigen je Auto ist legendär. Es geht um Minuten und abenteuerliche Überholmanöver. Dazu kommen im Winter zahllose Busse mit Skifahrern. Die Stadt Brixen bietet zwar einen kostenlosen Ski-busshuttle während des ganzen Winters an – vergeblich! Lieber fährt jeder die Stre-cke mit dem eigenen Wagen während der Bus sich spärlich besetzt durch die Kehren quält.

Wäre hier nicht der Ausbau der Seilbahnstrecke St. Andrä – Milland als Umlaufbahn preisgünstiger, umweltschonender und bequemer gewesen als der Abriss? Von Mil-land ist man in wenigen Minuten zu Fuß in der Altstadt von Brixen, ohne Auto und ohne Parkplatzprobleme. Man sieht, dass es wirtschaftlichere, umweltfreundlichere und landschaftsschonendere Alternativen mit modernster Technologie zu übermäßig ausgebauten Straßen gäbe.

Dieser Fall braucht noch eine Nachbemerkung:
Die kehrenreiche Strecke Milland – St. Andrä ist äußerst beliebt bei Motorradfahrern, die neuerdings in Schwärmen nachts ihre Kurventechnik erproben. Versteht sich – mit einem Höllenlärm. Ich bin kein Gegner der kürzlich verschärften Verkehrsvor-schriften und –strafen. In den USA habe ich gelernt, dass es im Portemonnaie richtig weh tun muss um die Verkehrsteilnehmer zu erziehen. Was ich nicht verstehe ist, dass für ein Übertreten der gesetzlich vorgeschriebenen Lärmemissionsbegrenzung keine Strafen vorgesehen sind. Wie wirkungsvoll wäre der Entzug eines röhrenden Motorrades am Samstag Nachmittag zwischen Milland und St. Andrä, der Motorrad-fahrer müsste schwitzend in der Ledermontur ins Tal traben, sich dort ein Hotelzim-mer suchen um am Montag seine Maschine mit der Auflage des Einbaus von Schall-dämpfern zurückzuerhalten.

Milland – St. Andrä ist nur ein Beispiel. Milland – St. Andrä findet sich fast überall in Südtirol, wo ähnliche Straßen ausgebaut wurden ohne über Alternativen nachzuden-ken und ohne die Kulturlandschaft zu schonen. Ich hoffe, dass künftig mit der Initiati-ve zu besserer Gestaltung der Verkehrsbauten auch Überlegungen einhergehen wie viele Straßen denn noch benötigt und zur Beschleunigung ausgebaut werden müs-sen. Im Interesse der uns verbliebenen Kulturlandschaft brauchen wir eine Entschleunigung oder besser gesagt eine Verlangsamung des Verkehrs. Ich wün-sche den Südtiroler Politikern daher den Mut zum Widerstand gegen die Straßenbau- und Automobillobby damit die Schönheit der Region weiter erfahren statt zerfahren wird.

In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Architekten Dr. March ganz besonders herzlich danken, dass er ein Entwurfsprojekt für die Hochschule für Technik in Stutt-gart und die Universität Trient ermöglicht hat, an dem Studenten des Bauingenieur-wesens und der Architektur ihre Kreativität und Zusammenarbeit an einem realen Projekt der Mendelstraße unter meiner Leitung erproben können. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung auch in der Ausbildung, über den ich mich zusammen mit meinem Dekan Prof. Helmut Honecker und dem Trienter Dekan Giorgio Cacciaguer-ra mit Professor Claudio Lamanna sehr freue. Die Ergebnisse werden wir im März 2008 in Kaltern vorstellen. Mein Dank gilt auch der Vorbereitung dieses heutigen Seminars, das eine wertvolle Ergänzung zu unserem morgen in Kaltern beginnenden Seminar zur Einführung in die Entwurfsaufgabe darstellt.

Vorhin schon habe ich gesagt, dass die besondere Stärke der Südtiroler Architektur im Umbau vorhandener und oft denkmalgeschützter Bauten liegt. Auch für die Stra-ßen sollten immer zunächst die vorhandenen Strukturen erhalten und verbessert werden. Ich möchte deshalb mit einem für uns Architekten und Ingenieure provokan-ten Satz schließen:

In der schönen Natur- und Kulturlandschaft Südtirols, bei einer immer älter werden-den Gesellschaft, der bereits alles zur Verfügung steht und neuer Bedarf meist purer Luxus ist - z.B. Ferienwohnungen mit den erforderlichen Erschließungen – ist ein Haus und eine Straße, die nicht gebaut werden ein gutes Haus und eine gute Straße.

Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit für Gedanken, die uns etwas weg von den Überlegungen zur technischen Planung von Straßen und Brücken ge-führt haben. Ich hoffe, sie können der Nachdenklichkeit dienen, zum Umdenken für neue Lösungen einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Verkehrspolitik in unserer Region.

Sie sehen mir bitte diesen verbalen Anschlag auf Ihre Geschäftstüchtigkeit nach – aber vor aller Kubatur und Planiererei kommt zuerst der Erhalt unserer Kulturland-schaften.
Auf Wiedersehen!

Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist

Vortrag gehalten in Auer (BZ) am 19.09.2007



:: Home :: Impressum :: Sitemap

15.01.2020
Häuser des Jahres

15.01.2020
Die Bozner Freiheitsstraße

Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
Otto von Guggenberg Str. 46   I-39042 Brixen (BZ)   Italien
Tel Studio 0039-0472-836317   mobil 0039-349-7969334
privat 0039-0472-679076   e-mail info@agh.bz
Seite drucken Webseite zu den Favoriten hinzufügen