Dienstag, 10.06.2008 | Die politische Landschaft in Südtirol – ein Blick von Außen

Referat anlässlich der 2. Landesversammlung der BürgerListeCiviche am 10.11.2007

Es ist eine Ehre für mich, dass ich zu Ihrer Landesversammlung eingeladen bin um aus meiner Sicht über den Eindruck zu sprechen, den die politische Landschaft Südtirols an Außenstehende vermitteln kann. Die Einladung sagt etwas über die Vorurteilslosigkeit aus um die Sie sich als BürgerListeCiviche bemühen um andere Meinungen anzuhören. Zum Beispiel die eines „hergelaufenen Deitschen“, als der ich neulich einmal bezeichnet wurde, als ich eine abweichende Meinung vorgetragen habe.

Ich bin eigentlich nicht hergelaufen, sondern hergezogen, nachdem ich Südtirol schon seit 1961 ins Herz geschlossen und als meine künftige Wahlheimat nach dem lateinischen Spruch „ubi bene ibi patria“ ausgesucht hatte. Seit 2003 bin ich Wahlsüdtiroler ohne Wohnsitz mehr in Deutschland. Seit 46 Jahren, seit meiner Studentenzeit in München beobachte ich die Politik in Südtirol.

Ich versuche nun einmal eine Zusammenfassung meiner Eindrücke:

1960 hat Österreich nach den Sprengstoffanschlägen der 1950er Jahre die Südtirolfrage vor die Vereinten Nationen gebracht. Trotz - oder vielleicht auch wegen - der Feuernächte in den 1960er Jahren mit Toten und Folterungen und obwohl die Beziehungen zwischen Italien und Österreich damals dem Gefrierpunkt nahe waren, gelang es mit Silvius Magnago den Entwurf zum zweiten Autonomievertrag fertig zu stellen, der 1967 mit knapper Mehrheit von der SVP angenommen wurde. 1972 trat der Autonomievertrag in Kraft und wurde langsam gegen die bekannte Zähigkeit Roms umgesetzt bis die Schutzmacht Österreich schließlich 1992 den Streitfall vor der UN als beigelegt erklären konnte.

Bis dahin habe ich die Politik der Südtiroler restlos bewundert. Standfestigkeit, Zähigkeit, diplomatisches Geschick und der unverdrossene Glaube, die eigene Identität würdig auch in einem anderen Staatsgebiet zu bewahren, beeindruckten mich sehr. Beeindruckend war auch das Zusammenstehen der Südtiroler – trotz aller oft deutlich wahrnehmbarer interner Differenzen – wenn es als Minderheit um das Erreichen des Zieles einer weitgehenden Autonomie nach all den Jahren ungerechter Unterdrückung durch eine präpotente Politik des „siamo in Italia“ ging.

Soweit so gut, soweit die absolute Bewunderung für die politischen Protagonisten jener die Zukunft entscheidenden Jahre. Bewunderung aber auch für eine Generation von Südtirolern, die ich immer wieder als Gast in Südtirol erleben durfte – und ich fuhr so oft es irgend ging hin!
Stark vereinfacht: das waren kernige Persönlichkeiten in der blauen Schürze, freundlich, gastlich, bescheiden aber selbstbewusst und – was mich am meisten beeindruckte – in der Regel ohne Hass auf die Italiener, die es ihnen so schwer machten. Und voller Begeisterung für ihr schönes Land, dessen einmalige Kulturlandschaft ja auch durch sie erhalten wurde – zum Teil mit konsequenter Strenge hinsichtlich neuer Baumaßnahmen wie unter Landesrat Benedikter.

Danach kamen die Jahre weitreichender neuer Kompetenzen für Bozen als Hauptstadt der Autonomen Provinz. Südtirol schien das große Los gezogen zu haben. Ganz klar – selbst die so oft gewünschte aber definitiv nicht erreichbare Rückkehr nach Österreich hätte wohl kaum diese politischen und wirtschaftlichen Vorteile gebracht über die Südtirol seit dem Inkrafttreten des zweiten Autonomiepakets verfügt.

Hätte sich Wien etwa mit dem Verbleib von 90% des Steueraufkommens in Südtirol begnügt? Nein, Südtirol wäre wieder ein Teil des Bundeslandes Tirol geworden mit der Landeshauptstadt Innsbruck und entsprechender Randlage. Keine Aussicht, die abgetrennten ladinischen Bereiche wieder einzugliedern, keine Universität, keine Europäische Akademie, das Kulturleben weitgehend in Innsbruck oder Wien usw. usw.

Fazit: Für das Autonomiestatut kann Südtirol dem italienischen Staat nur dankbar sein und neben Silvius Magnago auch Aldo Moro ehren, der so schmählich von den eigenen Leuten im Stich gelassen wurde (oder waren es die Amis mit CIA, Opus Dei und P1, die ihn auf dem Gewissen haben weil er den historischen Kompromiss mit den Kommunisten wagen wollte?). Es ermöglichte eine weitgehend unabhängige Entwicklung im Herzen der Europäischen Union – und das zweisprachig, einer Chance in der Ausbildung, in den kulturellen Möglichkeiten zweier Kulturkreise nach der sich andere die Finger schlecken würden!

Das neue Autonomiezeitalter kam mir zu Anfang so vor, wie Frankreich in der Zweiten Republik, als Napoleon III. seine Bourgeoisie aufforderte: „Enrichissez-vous – Bereichert Euch!“ und alle hemmungslos versuchten, sich die Nasen zu vergolden. In der „Stillen Hilfe für Südtirol“ habe ich es noch erlebt, wie arm viele der damals noch so kinderreichen Südtiroler Bergbauern waren. Aber auch Städte wie mein Brixen waren noch nicht so perfekt blank renoviert und die Autoanzahl pro Tausend Einwohner unterschied sich noch sehr deutlich von dem Deutschland des Wirtschaftswunders.

Das Wirtschaftswunder hielt nun auch in Südtirol Einzug und verschaffte den Südtirolern einen bis dahin ungekannten Wohlstand, den man ihnen nach all den schweren Jahren wirklich von Herzen gönnt.

Auch im Hinblick auf die Italiener, die Besatzer von einst, wurde es ruhiger. Das Militär verschwand, die wichtigen Posten wurden nach Proporz besetzt, aus der früheren Präpotenz wurde ein kleinlautes Disagio. Eine Entwicklung, die den eingefleischten Fans Deutschsüdtirols zwar zunächst schadenfroh stimmte aber dann doch zu Besorgnis Anlass gibt.

Wortreich aber uneins wie immer finden die verbleibenden Italiener nicht zu einer politischen Formation, die ihrem Gewicht entsprechen würde. Manche zogen bereits wieder weg, Zuwanderung wie vorher findet nicht mehr statt und wenn, dann darf erst nach vier Jahren gewählt werden. Ex-Faschisten und Rechtsparteien bestimmen die politische Landschaft der Italiener, teilweise mit Köpfen, Gesichtern und Sprüchen, die für einen gebildeten und nachdenklichen italienischen Bürger wohl kaum wählbar erscheinen. Ich habe Freunde aus dem Süden Italiens, die sich für diese Szenerie mit dem Siegesdenkmal als Hintergrund ganz offen schämen.

Politische Persönlichkeiten von Format, ob rechts, bürgerliche Mitte, liberal, grün oder linksorientiert sind nicht in Sicht, integrierende Persönlichkeiten, die etwa auch für deutsche Wähler für ein Kreuz auf dem Wahlzettel infrage kämen erst recht nicht. Ein sich gemäßigt gebender Benussi mit der anachronistischen Nationalistin Biancofiore als Schutz- und Racheengel hatte sein Vertrauenskapital schnell verspielt. Alles in allem keine gute politische Grundlage für eine gemeinsame interethnische Zukunft.

Allerdings muss den Italienern zugestanden werden, dass Ihnen von Deutschtiroler Seite politisch nicht gerade die Hand gereicht wird. Im Alltag sieht das ja ganz anders aus. Die gegenseitigen Beziehungen sind meist sehr viel besser als offiziell zugegeben wird. Offiziell wird alles klar geschieden, vom Kindergarten über die Schulen bis zur Volksgruppenzugehörigkeitserklärung - das Autonomiestatut will es so.

Die Realität ist jedoch durch eine subtile Annäherung beider Volksgruppen viel komplexer. Gemischte Ehen zwischen Deutschen und Italienern sind keineswegs mehr so selten wie in früheren Jahrzehnten – warum sollten sie auch? Immer noch überwindet die Liebe alle Grenzen, Gott sei Dank!

Die Kinder stehen dann aber zwischen den Kulturen und müssen sich für schulische und berufliche Zwecke entscheiden, ob sie sich der deutschsprachigen oder italienischen Volksgruppe zugehörig registrieren lassen sollen. Das hatte solange seinen Sinn als die deutschsprachige Volksgruppe rigoros benachteiligt wurde. Heute sind auf Grund dieser Zuordnungen die Benachteiligungen der Deutschtiroler weitestgehend beendet.

Und nun?

Hier beginnt die konsequente Autonomiepolitik nach einer Phase der ausgleichenden Gerechtigkeit bereits an ihre Grenzen zu stoßen. Wie soll sich eine junge Generation jemals verstehen, wenn sie nicht zusammen aufwachsen darf und zusammen erzogen wird? Den meisten von Ihnen wird es so gehen wie mir: die besten Freunde stammen noch aus der Schulzeit. Wie bereichernd könnte eine Schulzeit in den zwei Sprachen zweier Kulturkreise sein. Und niemand muss um einen Arbeitsplatz verlegen sein, wenn er perfekt zwei Sprachen beherrscht – Übersetzer oder Dolmetscher wären immer noch drin.

Leider ist das Gegenteil festzustellen: die Sprachkenntnisse der beiden Volksgruppen werden immer schlechter, was vor allem bei den jungen Deutschsüdtirolern auffällt. Bei denen musste die vorige Generation ja noch Italienisch beherrschen um überhaupt auszukommen. Damals hatten Italiener, die ihre mageren Deutschkenntnisse gerne einmal anbringen wollten schon gar keine Chance dazu – es wurde sofort Italienisch geantwortet.

Ich stelle fest, dass die jetzige Autonomiepolitik auf diesem Gebiet zu keiner weiteren Annäherung der Volksgruppen führt. Der fatale Spruch: „Je mehr wir uns trennen, desto besser werden wir uns verstehen“ muss aus der Erfahrung mit dieser Politik umformuliert werden: „Je mehr wir uns trennen, desto weniger werden wir uns verstehen.“

So wird man wohl noch lange nicht von einem echten Miteinander sprechen können sondern begnügt sich derweil mit einem erträglichen Nebeneinander auf relativ dünnem Eis, wie die unsäglichen Vorgänge um die vergebliche Umbenennung des Siegesplatzes in einen Friedensplatz und die heimlichen Tonbanddokumentationen mangelhafter Deutschkenntnisse der Carabinieri bei Verkehrskontrollen beweisen. Das wird wohl erst überwunden sein, wenn die hochmütige Inschrift
„Hier sind die Grenzen des Vaterlandes, setze Zeichen! Von hier aus brachten wir den anderen (gemeint sind die deutschen Barbaren) Sprache, Kultur und Künste“

auf dem Siegestor durch die Widmung

„Den Opfern des Faschismus“ (die es auf beiden Seiten gab!)

ersetzt wird und auch Südtiroler freiwillig Dienst im italienischen Heer tun, damit dort künftig auch auf deutschsprachige Carabinieri zurückgegriffen werden kann.

Trotz der nicht ganz überwundenen Schwierigkeiten eines interethnischen Zusammenlebens im gemeinsamen kleinen Paradies der Autonomie Südtirols hat das eiserne Zusammenstehen der Deutschtiroler gegen die „Walschen“ immer mehr seinen Sinn verloren. Andere Interessenkonflikte drängen in den Vordergrund und lassen sich nicht immer wieder mit der so billig handhabbaren Keule des ethnischen Gegeneinanders lösen.

Der Gedanke des Nationalstaats aus dem 19.Jht. hat unendlich viel Leid über die europäischen Völker gebracht und ist durch das gemeinsame Europa glücklicherweise obsolet geworden. Dafür treten die Regionen als identitätsstiftende Heimat mehr und mehr in den Vordergrund, vor allem als wohltuendes Gegengewicht zur alles platt- und gleichmachenden Globalisierung. Im Zusammenhang mit einem Südtiroler Regionalismus können die sprachlichen und kulturellen Verschiedenheiten nur als enorme Bereicherung empfunden werden. Niemand muss deshalb seine Identität aufgeben, niemand wird dabei „assimiliert“ – außer vielleicht zum guten autonomen und freidenkenden Südtiroler, gleich welcher Sprachgruppe.

Ich meine, es ist an der Zeit, dass sich die Südtiroler Politik von immer noch gepflegten und veralteten Denkschemata lösen sollte. Der verquaste Selbstbestimmungsgedanke mit der Fata Morgana einer Rückkehr in ein inzwischen fremd gewordenes Österreich gehört ebenso auf den Müll wie Biancofiores Wunschtraum der Trikolore im Herrgottseck jeder Almhütte – um nur mal die Extreme zu nennen. Man sollte sich auch von dem unrealistischen Gedanken verabschieden, dass eine unbefangene ethnische Gemeinsamkeit im autonomen Südtirol zur alsbaldigen Assimilation der deutschen Sprache und Kultur durch die darauf angeblich so erpichten Italiener führen könnte.

Ganz andere, viel schwierigere Probleme stehen an, die bis jetzt durch die immer weiter durch interessierte Kreise gepflegte ethnische Scheinproblematik und das viele Geld des neuen Wohlstandes unter der Decke gehalten werden konnten:

Es geht zum Beispiel um den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und den großen Wirtschaftsgewinnern um den sich bereits abzeichnenden Spannungen zwischen Menschen am Existenzminimum und den Bevorzugten zuvorzukommen.

Es geht weiter darum, wie fast überall in Europa, eine überbordende Bürokratie so einzuschränken, dass wieder mehr Mittel für Investitionen statt für Frühpensionen frei werden und dass die kleinen Unternehmer und Handwerker, die tüchtigen Bauern mit Buschenschänken und risikobereite, zu den notwendigen Innovationen fähige, junge Selbstständige nicht entnervt und entmutigt das Handtuch werfen. Wer Augen und Ohren offen hält und mitbekommt wie gerade die unternehmerischsten Kräfte – meist engagierte Individuen, zusammenarbeitende Familien, Ehrenamtliche, Junge u.a., die nicht auf die abzusitzende Arbeitszeit sondern auf das Ergebnis sehen von amtlichen Kontrollen sekkiert werden, der wünscht sich hier eine andere Politik.

Es geht heute darum eine umweltverträgliche, ganzheitliche Politik zu entwickeln in der Ökonomie, Ökologie, Soziales und Kulturelles gleichberechtigte Werte darstellen. Wohin das Primat einer rein gewinnorientierten, einseitigen Wirtschaftspolitik führt lässt sich zum Beispiel an der gnadenlosen Zersiedelung unserer Kulturlandschaft ablesen. Geld ist eben nicht alles – es verdirbt vielmehr den Charakter. Das muss ich leider an vielen jüngeren Südtirolern beobachten, die ihre aufrechten Väter in die blauen Schürzen eingerollt haben damit sie nicht weiter stören und denen die Eurozeichen in den Augen stehen, wenn es um den Ausverkauf der Heimat geht.

Ich stelle aber ebenso fest, dass in der jungen Generation ein Umdenken stattfindet, das die komplexen Anforderungen unserer Zeit wahrnimmt. Für die Geldverdienen ohne Rücksicht auf andere Werte nicht alles ist. Natürlich ist ein gewisser materieller Wohlstand die Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein – das Glück, die Lebensqualität, die Freude am Dasein wird aber darüber hinaus von ganz anderen Werten bestimmt:

Liebe, Freundschaft, Wärme, Solidarität, Rücksichtnahme und Respekt untereinander gehören ebenso dazu und kosten kein Geld. Ebenso wie die Liebe zu den Dingen, also der sorgfältige Umgang mit unseren Ressourcen. Wir haben unseren Planeten von unseren Kindern geliehen. Unser ökologischer Fußabdruck, also das, was jeder Einzelne von uns in Europa verbraucht, benötigt unseren Planeten gleich dreimal. Wir haben aber nur einen und wie es derzeit scheint, werden wir ihn so ramponiert weitergeben, dass die Kinder und Enkel uns verfluchen werden. Sie werden fragen, warum wir unserer Erde nicht gleichviel zurückgegeben haben – wenn auch vielleicht in anderer Form - wie wir verbraucht haben.

Die Zahl der Menschen in Südtirol, die diese Zusammenhänge verstehen und vielleicht sogar versuchen danach zu leben, wächst. Aber noch sind die Mitläufer des derzeitigen Systems nach dem Motto „Enrichissez vous – bereichert Euch!“ in der Mehrzahl. Aber ich bin guter Hoffnung, dass die Einsichtigen, die Nachdenklichen und die Verantwortungsbewussten in naher Zukunft die politische Landschaft Südtirols verändern werden. Noch ist es nicht zu spät, aber die Zeit drängt. Ich weise nur auf die Konsequenzen der Klimaveränderung hin, die ganz neue Konzepte z.B. für den Tourismus in unserem Lande erfordert wenn wir den Wohlstand daraus nur halten wollen – von ständigem Wachstum wollen wir gar nicht erst reden.

Es geht künftig darum, eine neue demokratische Parteienlandschaft zu entwickeln. Die Parteien müssen klare Interessen vertreten, statt nur zur Mehrheitsbeschaffung bestehende Gegensätze zuzudecken. Das kann dann im Sinne der zu behandelnden Sachfragen zu wechselnden Koalitionen und damit zu den für eine Demokratie notwendigen Machtwechseln führen. Der demokratische Wechsel verhindert bekanntlich jene Interessenverfilzungen und persönlichen Begünstigungen, die sonst zwangsläufig  entstehen – gleich bei welcher politischen Formation - das ist leider allzumenschlich. Ich habe 36 Jahre in Bayern gelebt und weiß wovon ich rede, wenn eine politische Partei bei jahrelangen unveränderten Machtverhältnissen sich allmählich mit dem Staat, der bekanntlich allen dienen soll, gleichsetzt.
Südtirol ist eine kleine überschaubare Region. Ich beobachte immer wieder, dass sowohl auf Landesebene als auch auf der Ebene der 116 Gemeinden Entscheidungen nach parteipolitischer Raison statt nach sach- oder problembezogenen Überlegungen getroffen werden. Gerade in der Kommunalpolitik hat Parteipolitik nichts oder nur wenig zu suchen – hier kommt es doch auf die sachbezogenen Lösungen zum Nutzen der Bürger an.

Man kennt sich untereinander und die anstehenden Probleme, die gründlich in aller Offenheit auch mit allen Bürgern diskutiert werden müssen statt aus wahltaktischen oder anderen Überlegungen parteipolitisch entschieden zu werden oder um aufgrund der Mehrheitsverhältnisse einer Partei durchgedrückt zu werden. Das artet oft zu reiner Rechthaberei aus. Im übrigen werden bei dieser Methode Projekte und Vorhaben solange im Verborgenen vorbereitet, bis sie unabänderlich erscheinen und jeder Einspruch zu spät oder erfolglos erscheint.

Aufgrund der politischen Schwierigkeiten der Vergangenheit und bei dem dadurch für die Deutschsüdtiroler entstandenem Zwang fest zusammenzuhalten, ist leider die Streitkultur in diesem Lande zu kurz gekommen, ja, geradezu schwach entwickelt. Andersartige oder gegensätzliche Argumente werden immer noch unterschwellig als Verrat an der Volksgruppe empfunden und als Nestbeschmutzung diffamiert.

Die mangelnde Streitkultur ist ein ganz wesentlicher Punkt, der mir im politischen Leben Südtirols besonders auffällt.

In meinen zehn Berliner Jahren von 1992-2003 als Berufspolitiker im Präsidium und als Präsident des Bundes Deutscher Architekten habe ich in der Umbauzeit der Deutschen Hauptstadt – in der es wirklich hoch herging in der Suche nach dem richtigen Weg für das Leitbild, der städtebaulichen und architektonischen Zukunft! – ziemlich viel Streit erlebt, der nicht immer nur kultiviert war sondern ganz schön fetzig. Die Streitkultur bestand aber darin, dass man den Gegner in der Sache nicht gleich persönlich angegriffen hat. Man ging lieber nachher zusammen ein Bier trinken, denn man sieht sich ja nicht nur einmal.

Gut, Südtirol ist nicht Berlin. Ganz Südtirol hat gerade mal etwas mehr Einwohner als der größte der 12 Berliner Bezirke, Neukölln. Was zur Folge hat, dass hier zumindest jeder jeden kennt oder man gar miteinander verwandt ist und eigentlich niemand niemandem weh tun möchte. Es sei denn es handelt sich um richtige Italiener, Albaner, Farbige oder andere Ausländer. Dennoch: es wird zuwenig sachbezogen diskutiert sondern viel zu viel geschwiegen um sich dann erst aufzuregen, wenn es zu spät ist.

Südtirol wäre wie die Schweiz von der Größe her geradezu prädestiniert für mehr direkte Demokratie in welcher die Bürger ständig problembezogen informiert werden müssen und zur Auseinandersetzung aufgefordert werden um in ihrer Gemeinde, oder ihrem Bezirk über jede etwas größere Maßnahme verantwortungsvoll abzustimmen, sei es ein E-Werk, eine Brücke, das neue Rathaus, der BBT oder die Ortsumfahrung.

Herrscht dadurch in der Schweiz etwa Chaos? Geht es dort etwa nicht voran? Ist in der Schweiz der wirtschaftliche Wohlstand gefährdet, weil manche Sachen dadurch etwas länger dauern dafür aber wohlüberlegt sind und von allen getragen werden? Nein – es herrscht einfach eine direkte Demokratie, die den Bürger zwingt, sich mit „seiner Sache“ zu beschäftigen und sich nicht ausgeschlossen zu fühlen oder als Ohnemichel beiseite zu stehen.

Ich beende deshalb meine Eindrücke der politischen Landschaft Südtirols mit dem Wunsch nach mehr Informationsbereitschaft von oben, mehr Diskussion unten, mehr sachbezogener Streitkultur miteinander und weniger persönlicher Diffamierung wegen anderer Ansichten. Andersdenkende sollten nicht ausgegrenzt sondern als Bereicherung empfunden werden. Ich wünsche dem Land steten demokratischen Wechsel im Rahmen einer weniger repräsentativen als vielmehr direkten Demokratie.

Irgendwann werde ich als Deutscher mit ausschließlichem Wohnsitz in Südtirol wohl auch einmal mitwählen dürfen – die jetzige Sonderregelung für Südtirol entspricht nicht den europäischen Vorgaben sondern orientiert sich immer noch an der Furcht, dass italienische Militärbataillone am Wahltag anrücken und in Südtirol an den Urnen ihre Stimmen abgeben - ein typisches Beispiel für den Ballast, den die Südtiroler Politik noch aus den Zeiten der ethnischen Nahkampfhaltung weiter schleppt.

Ich wünsche mir - und natürlich Ihnen! - dass neues Denken und frischer Wind die politische Landschaft Südtirols im Sinne der vorher gemachten Anmerkungen nachhaltig und zukunftsfähig verändert. Dann könnte Südtirol wirklich ein europäisches Modell für regionale Zukunft sein.

Wem dies alles zu theoretisch erscheint, dem möchte ich als Abschluss ein Beispiel dafür geben wie sich unter den jetzigen Konstellationen alltägliche Vorgänge in der politischen Landschaft Südtirols abspielen – natürlich ist alles frei erfunden aber die Ähnlichkeit ist beabsichtigt:

Es geht um die Genehmigung einer Hotelerweiterung. Die Baupläne liegen vor. Das Hotel gehört dem örtlichen Seilbahnbetreiber, der zufällig ein Onkel des Bürgermeisters ist. Er hat durchblicken lassen, dass er gezwungen sein wird die Seilbahn zu schließen, wenn nicht in aller Kürze weitere Bettenkapazitäten zur Verfügung stünden um den Betrieb der Seilbahn zu sichern. Der Vetter des Bürgermeisters ist Bauunternehmer und Stadtrat, der Schwager Architekt und Mitglied im Bauernbund, der Bruder der Hoteliersfrau Feuerwehrkommandant und Hydrauliker. Alle sitzen gemeinsam in der Baukommission. Was Wunder, dass die qualitative – oder besser gesagt: quantitative Erweiterung des Hotels eine rasche Kubaturverlagerung ins bisherige landwirtschaftliche Grün erhält.

Davon dass der Skibetrieb seit Jahren nur mehr mit Kunstschnee möglich ist, und die Gäste etwa schneesicherere Gebiete aufsuchen, ist keine Rede. Die Genehmigung wird ohne Zeitverlust durch lange Sachdiskussion über alternative Tourismuskonzepte, Marktuntersuchungen, wirklichen Bettenbedarf, infrastrukturelle Folgen für Ab-wasser, Verkehr, Immissionen, Grundwasseruntersuchungen und dergleichen mehr erteilt.

Im Rahmen der Vertragsurbanistik spendiert der Hotelier für die freundliche und rasche Genehmigung der Gemeinde noch den schon lange benötigten Kinderspielplatz an der Grundschule. Ob das Hotel dann geht oder bald wieder schließen muss, das spielt keine so große Rolle. Zunächst werden ja alle gut dran verdienen, der Bauunternehmer, die Handwerker und der Architekt, der den Grundriss des Neubaus so geschickt gestaltet, dass dieser im Zweifelsfall problemlos in Ferienwohnungen, „Residences“, umgewandelt werden kann. Allerdings zu Preisen, die dazu beitragen werden, den örtlichen Immobilienmarkt auf das Niveau von München zu befördern, unerschwinglich für die Einheimischen. Wenn die Ferienapartments nicht gleich verkäuflich sind, dann müssen die Handwerker einige davon als Honorar übernehmen und später sehen, wie sie diese auf dem freien Wohnungsmarkt wieder loswerden können, aber da werden sich schon ein paar wohlhabende Italiener aus der Lombardie oder dem Veneto, ein paar solvente Salzburger oder reiche Münchner  finden, die eine Ferienwohnung suchen.

Natürlich könnte die Genehmigung durch einen aufrechten Verwaltungsbeamte anhand der für den Normalverbraucher undurchschaubaren Raumordnungsgesetzgebung noch wegen einiger Ungereimtheiten, dem fehlenden Masterplan etwa, infrage gestellt werden. Der Onkel – gut befreundet über seine Jagdleidenschaft mit Höhergestellten – tritt nun als Bittsteller um 6 Uhr morgens im Landhaus an.

Ergebnis: Ein Telefonat bewegt den übergenauen Verwaltungsbeamten zum raschen Einlenken im Sinne des Bauantrages und hinterlässt ihn frustriert. So schnell wird er sich jetzt nicht mehr querstellen auch wenn ihm die Gesetzeslage zu genauerer Prüfung Anlass geben sollte.

Wie kann sich da eine verantwortungsbewusste Verwaltung unter solchen – vielleicht ja gutgemeinten – Eingriffen zur qualifizierten Stütze der Politik entwickeln und sachgerechte Dienstleistung für alle Bürger erbringen?

Das war zumindest kein Blick auf eine politische Kulturlandschaft.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit,
die Gelegenheit zu Ihnen zu sprechen
und wünsche Ihrer politischen Arbeit viel Erfolg
im Sinne von mehr direkter Demokratie!


Andreas Gottlieb Hempel

Prof. Dipl.-Ing. Architekt&Publizist
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