Mittwoch, 11.06.2008 | „fast nackt?“

Brixner 4/2008 3
In Brixen fand der erste Workshop mit Erfahrungsberichten zum Projekt „Ethisch leben“ statt, das die KVW mit der OEW und der Verbraucherzentrale ein halbes Jahr lang mit mehreren Familien durchgeführt hat.

Wer meinte, dass die Versuchsfamilien, die sog.Probanden, fast nackt erscheinen würden, sahen sich getäuscht. Auch an Ausdrücke wie „ethisch korrekte Turnschuhe“ musste man sich erst einmal gewöhnen am ersten Abend eines der Worshops, in denen die Ergebnisse dieser Versuchsreihe der weniger ethischen Öffentlichkeit vorgestellt wurden.

Aber der Reihe nach. Die Katholische Vereinigung der Werktätigen, KVW, zusammen mit der Organisation Eine Welt, OEW, und der Südtiroler Verbraucherzentrale als Trägerorganisationen haben sich ein Projekt vorgenommen, mit dem „nicht schlechtes Gewissen sondern ein neues Bewusstsein im Alltag geschaffen werden soll“, wie es die KVW-Bildungsreferentin Eva Burger formulierte. Die Idee zu diesem Experiment stammt vom britischen Journalisten Leo Hickman, der ein Jahr lang mit seiner Familie versucht hat „ohne schlechtes Gewissen“ zu leben was sein Verhalten im Alltag als Konsument, Verkehrsteilnehmer, Tourist usw. betrifft. Die Ergebnisse veröffentlichte er in seinem Buch „Fast nackt – mein abenteuerlicher Versuch ethisch korrekt zu leben“. Nun soll sein Versuch auch in Südtirol Nachahmer finden.

Die Probanden, die sich feiwillig für das Experiment zur Verfügung gestellt haben, versuchen vom November 2007 bis April 2008 möglichst ethisch korrekt zu leben und werden dabei von Experten begleitet und unterstützt. Sie erkundigen sich beim Einkauf nach der Herkunft der Waren und den sozialen, ökologischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Herstellung, hinterfragen ihre Mobilität und ihren Energieverbrauch, ihre Geldanlagen, ihr Freizeit- und Reiseverhalten und alles was sonst noch zu ihrem alltäglichen Lebensstil und ihren Gewohnheiten gehört. Dem weitaus überwiegendem Teil der Konsumenten sind nämlich die Bedingungen unter denen die Waren, die wir kaufen, hergestellt werden, kaum oder nicht bekannt.

Dazu kommt noch die Tatsache des ökologischen „Fußabdrucks“ den jeder von uns durch seinen Verbrauch an Ressourcen hinterlässt. Der Durchschnittseuropäer konsumiert demnach nämlich dreimal soviel wie unsere Erde hergibt oder regeneriert – d.h. Wir würden dreimal unseren Planeten benötigen - wir haben aber nur einen. Mit diesem Projekt, das auch noch vom Amt für Weiterbildung mitfinanziert wird, soll eine Initiative zur Nachhaltigkeit ausgehen durch welche die Südtiroler Bevölkerung in kreativer und lebendiger Art auf dieses uns alle betreffende Thema aufmerksam gemacht werden soll um für einen nachhaltigen Konsum sensibilisiert zu werden und um sich mit einem zukunftsfähigen Lebensstil vertraut zu machen.

Aus diesem Grunde läuft das Projekt in und vor der Öffentlichkeit ab. In allen Teilen unseres Landes finden Workshops statt mit Fachvorträgen und den dazu gehörigen Berichten der Probanden. Der erste Workshop begann am 5. März im gut besuchten Brixner Forum. Die Ernährungswissenschaftlerin Barbara Telser hielt einen einleitenden Vortrag zum Thema „Ernährung. Der klimafreundliche Einkauf“. Dazu vermittelte sie Informationen, welche den meisten der Anwesenden sicherlich nicht bekannt waren: etwa dass Knoblauch und Tomaten heute meist aus China kommen, wo die Lebensmittel mit billiger Arbeitskraft und Kinderarbeit erzeugt werden sowie mit Pestiziden behandelt werden, die in Europa nicht zulässig sind. Dafür müssen große Teile der italienischen Tomatenproduktion vernichtet werden um die Preise stabil zu halten. Oder dass jeder Südtiroler jährlich 440 kg Müll erzeugt, was aber im gesamten Müllaufkommen nur 13%   ausmacht. Dass etwa 200 000 Menschen im Dienste der international arbeitenden Nahrungsmittelindustrie für die Genforschung tätig sind aber nur ca. 200 Wissenschaftler wirtschaftlich unabhängig darüber Untersuchungen anstellen, ob die gentechnisch behandelten Nahrungsmittel nicht doch gesundheitsschädlich sind. Interessant die Feststellung der hohen Umweltbelastung bei der Produktion tierischer Produkte – für ein Kilo Fleisch wird soviel Energie verbraucht wie für 20 Kg Getreide. Und 80-90% der Lebensmittel werden nicht als Rohprodukte verzehrt sondern verarbeitet – heute vielfach als Fertigmahlzeiten (fast-food), die dazu geführt haben, dass die jüngere Generation kaum noch Kochkenntnisse aufweist.

Aus den Berichten der anwesenden Probanten konnte man entnehmen, dass es garnicht so einfach ist dem derzeitigen Konsumverhalten zu entkommen, z.B. beim Einkauf von Kleidung. Wer kann einem Auskunft darüber geben, unter welchen sozialen Bedingungen Turnschuhe aus Fernost hergestellt wurden? Kinderarbeit? Lohndumping? Giftige Materialien? Ist es also ein „ethischer Turnschuh“? Aber das ist nur ein Beispiel aus dem breiten Spektrum unseres täglichen Verhaltens vom Autofahren zum nächsten Briefkasten bis zum Billigurlaub mit dem Flugzeug.

Gerade zum Thema Reisen war am Abend vorher ebenfalls im Forum eine höchst interessante Veranstaltung von Dagmar Gnieser und Klaus-Peter Dissinger organisiert worden. Flugreisen mit großem Abstand, dann aber Autoreisen vor Busreisen und schließlich Zugreisen sind die Skala vom höchsten bis niedrigstem Energieaufwand. Aber nicht nur der Energieverbrauch sollte bei der „ethisch korrekten“ Reiseplanung eine Rolle spielen sondern auch die sozialen Verhältnisse am Ferienort selbst. Wird den dortigen Bewohnern wirklich wirkungsvoll wirtschaftlich durch den Tourismus geholfen oder fließt das Geld wieder nur in die Taschen der Hotelketten der reichen Länder? Schön, dass an diesem Abend vielfältiges Prospektmaterial zu alternativen Reisen in diesem Sinne angeboten wurden. Da hat sich bereits eine stabile Kundschaft für den „sanften Tourismus“ gebildet – die Zielgruppe von morgen, auch für Südtirol, in dem leider immer noch an teuren und energiefressenden Wellnesseinrichtungen gebaut wird.

Insgesamt zwei Veranstaltungen von hohem Wert für Menschen, denen ihr heutiges Konsumverhalten unheimlich geworden ist und die darüber nachdenken, wie wir es schaffen könnten auch unseren Enkeln noch eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen. Wir haben nur eine Welt, der wir soviel wieder zurück geben müssten, wie wir ihr entnehmen damit unsere Nachkommen auch noch ihr Auskommen finden.

Andreas Gottlieb Hempel



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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