Mittwoch, 11.06.2008 | Gries – ein städtebaulicher Pflegefall

Wer heute vom Siegesdenkmal kommend die breite und urbane Freiheitsstraße mit ihren hohen italienischen Lauben entlang fährt, kann sich wohl kaum noch vorstellen, dass hier einmal rebenbestandenes Schwemmland das Dorf Gries von der Stadt Bozen trennte – idealer Boden für die autochtone Lagreinrebe. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurde Gries durch die Brennerbahn gut erreichbar. Dank seiner klimatisch begünstigten Lage unterhalb des steil aufragenden Tschögglberges mit den sonnenerwärmten Porphyrfelsen als Schutz vor den Nordwinden und seiner subtropischen Pflanzenwelt war Gries bis 1914 einer der beliebtesten Ferienorte der k.u.k. Monarchie.

Nach der Annektion Südtirols durch Italien wurde Gries bereits 1924 zu Bozen eingemeindet. Mussolini plante das Wachstum Bozens als Industriestadt für etwa 100.000 Einwohner, die aus Nord- u. Süditalien hier angesiedelt werden sollten und der Bereich zwischen Talfer und Gries war für den Aufbau eines neuen italienischen Stadtteils nach Plänen von Marcello Piacentini und anderer Architekten als Gegenüber zur altösterreichischen Altstadt Bozens vorgesehen. An der Stelle von Obst- u. Weingärten entstand ein dichtes Wohnviertel, das bei aller architektonischen Qualität den Maßstab des alten Bozen und des ländlichen Kurortes Gries mit seinen schönen alten Ansitzen völlig sprengte. Neben der Funktion, den vielen italienischen Neubürgern Wohnraum zu verschaffen, war dieser Maßstabssprung als Zeichen der neuen Herren und einer neuen Zeit sicherlich ein beabsichtigter Nebeneffekt. Übrig geblieben sind als größere Grünflächen lediglich der Herzogpark, die Weingärten der Benediktinerabtei Muri und zwei weitere Weingärten südlich der alten Pfarrkirche zum Hl. Josef. In deren Bereich stand ein Weingut mit Keller, welches das Bistum Freising 1148 vom bayerischen Herzog erhalten hatte – von diesem Keller stammt wohl der ursprüngli-che Name „Chellare“ für Gries.

Die fast einen Kilometer lange Freiheitsstraße mündet in den Grieser Platz – heute noch das Zentrum der früher eigenständigen Gemeinde Gries und nun einer der eindrucksvollsten Plätze in Bozen. An Gebäude der alten Münzbank schließen sich städtische Häuser mit Gasthöfen, Läden und Cafés an. Dazwischen – fast verborgen die enge Zufahrt zur Bozner Kellerei. Gegenüber dieser Zeile bietet sich der architektonische Mittelpunkt von Gries dar: die strengen Klostergebäude von Muri Gries, deren südlicher Komplex sich kompakt um den ehemaligen Turm einer Burg der Grafen Morit-Greifenstein aus dem 11. Jh. gruppiert, die zweihundert Jahre später von Meinhard II ausgebaut und 1406 den Augustinern übergeben wurde. Diese errichteten 1788 die Stiftskirche zum Hl. Augustin, deren Barockfassade das Prunkstück des Grieser Platzes ist. Nach dem Auszug der Augustiner 1807 ging das Kloster 1845 an die aus Muri/Schweiz vertriebenen Benediktiner über. Einen wei-teren Höhepunkt der Kunstgeschichte in Gries bildet der gotische Bau der alten Pfarrkirche, wenige Schritte vom nördlichen Ende des langgestreckten Grieser Platz entfernt, mit dem berühmten Flügelaltar von Michael Pacher (1475). Dahinter führt die Guntschna- oder Heinrichpromenade hinauf zum Reichriegler Hof, von dem man Gries von oben gut betrachten kann.

Der Blick von oben zeigt, dass das ehemals ländliche Gries fast bis zur Unkenntlichkeit zersiedelt worden ist. Nur der Ortskern um den Grieser Platz weist mit der Klosteranlage als Zentrum noch die alte Charakteristik auf und die Villen unterhalb der Guntschnapromenade vermitteln etwas vom Flair des altösterreichischen Kurortes. Gries ist heute eine bevorzugte Wohnlage in Bozen. Um diese Qualität noch zu verbessern bedarf es aber einiger städtebaulicher Eingriffe. Dazu gehört zunächst, dass keine weiteren Freiflächen der Kulturlandschaft verbaut werden dürfen. Der berühmte Grieser Lagrein sollte seinen Originalstandort behalten. Der Charakter der Villenbebauung unterhalb der Guntschnapromenade muss erhalten bleiben – weitere Verdichtung würde den Wohnwert dieses noblen Quartiers stören. Eine Bebauung des Steilhanges darf überhaupt nicht in Erwägung gezogen werden. Sorgen bereitet aber vor allem der chaotische Verkehr über den stadträumlich so einmaligen Grieser Platz. Absolutes Halteverbot und eine deutliche Einschränkung des Fahrverkehrs als „Schleichweg“ über den Moritzinger Weg in Richtung Meran ist hier die verkehrspolitische Auf-gabe. Nach der Verkehrsberuhigung sollte eine angemessene Gestaltung der Platzoberflächen und eine Ergänzung der großen Einzelbäume in Angriff genommen werden.

Zu den verkehrsberuhigenden Maßnahmen gehört auch die Auslagerung der Kellerei Bozen. Durch die Vereinigung der beiden ehemaligen Kellereien Gries und St. Magdalena haben sich vor allem in der Erntezeit der Anlieferverkehr und die Emissionen der Gärvorgänge auf unerträgliche Weise gesteigert. Von Stuttgarter Studenten ist im Wintersemester 2005/6 mit Alternativentwürfen für Grundstücke in Moritzing und Rentsch nachgewiesen worden, dass eine Verlagerung der jetzigen Kellerei Bozen nicht nur für die internen Arbeitsabläufe des Kellereibetriebes große Vorteile bringt sondern auch die notwendige städtebauliche Umstrukturierung der Ortsmitte von Gries entscheidend begünstigt. Die Umwandlung der jetzigen Kellereiflächen in einen ruhigen aber dennoch zentralen Wohnbereich bietet mehrere Vorteile:

Gries ist kein landwirtschaftlich geprägtes Dorf mehr sondern ein bevorzugter Wohnort, in dem ein mit Emissionen verbundener Betrieb stört.
Die Verkehrsberuhigung des Grieser Platzes erfordert auch eine Beschränkung des erheblichen Lieferverkehrs der Kellerei.
Eine Wohnanlage auf dem jetzigen Gelände der Kellerei bietet einen zentralen und ruhigen Standort mit hervorragende Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, was somit zusätzlichen Quellverkehr vermeidet.
Dem neuen Wohnquartier könnte eine attraktive halböffentliche Nutzung durch die Verwertung der historischen Kelleräume für Ausstellungszwecke o.ä. gegeben werden um die urbane Qualität der Ortsmitte zu stärken.

Genaue Untersuchungen des Gebäudebestandes der Kellerei anhand der vorhandenen Pläne haben ergeben, das dieser kein architektonisch schützenswertes Ensemble bildet. Es handelt sich überwiegend um Bauten zwischen 1930 bis 1991. Älter sind nur das landwirtschaftliche Gebäude mit einem ebenerdigem Gärkeller rechts von der Zufahrt und das 1872 von dem Münchner Architekten und Stadtplaner Sebastian Altmann im Anschluss daran errichtete Kellereigebäude mit tiefem Gewölbekeller. Dieser einzig erwähnenswerte Bau ist aber im Laufe der Jahre gegenüber den Originalplänen entscheidend bis in die Details von Fenstern und Türen zur Unkenntlichkeit verändert worden. Fast unverändert erhalten geblieben ist nur der Gewölbekeller. Dieser könnte in eine Neubaumaßnahme zwanglos für eine neue – möglicherweise halböffentliche – Nutzung einbezogen werden.

Es kann aus dem vorhandenen Bestand kein öffentliches Interesse am Erhalt von Bauteilen der Kellerei abgeleitet werden – mit Einschränkung evtl. des unterirdischen Gewölbekellers in neuer Funktion.
Abschließend kann gesagt werden, dass die Auslagerung der Kellerei Bozen im Zusammenhang mit den weiteren beschriebenen städtebaulichen Maßnahmen die folgerichtige Umwandlung von Gries in ein urbanes Wohnviertel von hoher Qualität befördert, eine entscheidende Verbesserung des Ortsbildes ist und zu einer sinnvollen Verdichtung der Ortsmitte führt ohne weiteren Kulturgrund für Wohnzwecke in Anspruch zu nehmen.

Brixen, im Mai 2008

Andreas Gottlieb Hempel

Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
Dipl. Sommelier AIS
Via Otto von Guggenberg Straße 46
I-39042 Bressanone / Brixen
Tel. +39 349 7969334
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Andreas Gottlieb Hempel
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