Mittwoch, 21.01.2009 | Dresden 2008 – auf dem Weg zum artotel?

„Dresden war eine wunderbare Stadt“ schreibt Erich Kästner,1899 in Dresden geboren, in seinem Buch „Als ich ein kleiner Junge war“, und fährt fort: „voller Kunst und Geschichte und trotzdem kein von sechshundertfünfzigtausend Dresdnern zufällig bewohntes Museum. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang. Eigentlich müsste es heißen im Zweiklang. Und mit der Landschaft zusammen, mit der Elbe, den Brücken, den Hügelhängen, den Wäldern und mit den Gebirgen am Horizont, ergab sich sogar ein Dreiklang. Geschichte, Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal, vom Meißner Dom bis zum Großsedlitzer Schlosspark, wie ein von seiner eigenen Harmonie bezauberter Akkord“. Und: „Wenn es zutreffen sollte, dass ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich, sondern auch, was schön ist, so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein. Ich musste, was schön sei, nicht erst aus Büchern lernen. Nicht in der Schule, nicht auf der Universität. Ich durfte die Schönheit einatmen wie Försterkinder die Waldluft.“

Ich liebe diesen Vergleich. Es war zwar Krieg aber der schien weit weg, wenn ich in den Birkenwäldern vor dem großelterlichen Haus in Hellerau beim Spiel diese Waldluft einatmete. Diese Luft war zudem durchdrungen vom sommerlichen Geruch der Buschreihen von schwarzen Johannisbeeren im Garten. Omi, die aus Lübeck stammte, machte daraus herrliche rote Grütze. Oder vom Duft der Cox-Orange-Äpfel – heute eine Rarität zwischen der Südtiroler Apfelschwemme! – die Opi züchtete. Und in der Mitte des Garten stand ein großer Walnussbaum. Aus den grünen Nüssen wurde im Juni Nusslikör angesetzt an dem wir Kinder zu Weihnachten nur mal so riechen durften. Dafür knackten die reifen Nüsse unter unseren kleinen Schuhen, wenn wir an die köstlichen Kerne heran wollten. Hinter dem Nussbaum stand das schöne Haus, reiner Bauhausstil, 1928 gebaut. Es ist das einzige private Wohnhaus dieser Art in Dresden, das vor der Blut- und Boden-Architektur der Nazis gegen den heftigen Widerstand der spießbürgerlichen Nachbarschaft und der Baubehörden entstehen konnte. Vielleicht bin ich überhaupt nur wegen dieses Hauses Architekt geworden. Seine kubische Klarheit, die Beschränkung auf das Wesentliche faszinieren mich noch heute – less is more.

Heute aber – haben wir es nicht erreicht, dieses Haus. Es bläst ein scharfer Nordwestwind, der den Schirm umknickt. Julia und ich, wir flüchten vor dem Regen in das Kaffee am Markt in Hellerau. Hier hat sich allerhand getan in den letzten fünf Jahren. Die hübschen Häuser der Gartenstadt Hellerau – von Heinrich Tessenow und anderen noch vor dem ersten Weltkrieg als Werkssiedlung der Deutschen Werkstätten errichtet – wurden fein herausgeputzt. In den bisher ruhigen Wohnwegen steht fast vor jedem Haus ein neues Auto. Auch der Marktplatz ist zugeparkt – Parkstadt Hellerau? Auch das bislang versiffte und bisher ungastliche Kaffee wurde unter neuen Pächtern aufgemöbelt. Ein Gewinn. Trotzdem sind wir die einzigen Mittagsgäste. Es gibt Holundersuppe mit in Calvados marinierten Apfelscheiben. Köstliche und in dieser Umgebung ein wenig befremdliche haute cuisine

Wir beschließen, die Besichtigung des Hauses meiner Kindheit auf einen Sommertag in der Zukunft zu verlegen und nehmen die Straßenbahn zurück in die Stadt. Längst sind die schlanken Hechtwagen – so benannt nach ihrem Konstrukteur – die Omi wegen ihrer modernen Form so liebte, durch Großraumzüge modernster Bauart ersetzt worden. Sie nähern sich High-Tech fast lautlos und ermöglichen sogar Rollstuhlfahrern einen stufenlosen Zugang. Wir haben eine City-Card. Das Wort „Fahrschein“ würde den Fortschritt nur ungenügend bezeichnen. Damit können wir 48 Stunden im Dresdner Verkehrsverbund (auch so ein neues Unwort!) unterwegs sein. Aber niemand kontrolliert. Wir sind etwas enttäuscht und beschließen, die übrigen zwölf Stunden nach Ablauf der „Cards“ schwarz zu fahren. Die Fahrpreise sind üppig und den neuen Verdienern angepasst. Ein alter Rentner mit Baskenmütze und bescheidener Kleidung erzählt uns, dass man vor der Wende für nur zwanzig „Fenniche“ überall hin fahren konnte und dass seine Rente auf seinem Vorwende-Gehalt basiere. Es ist also nicht alles Gold was glänzt.

Aber nun vom Anfang dieser Reise:
Mein Julchen kannte Dresden noch nicht. Ich als international traveller war dagegen längst in ihrem Geburtsort Eslohe gewesen Wo liegt Eslohe? Bei Meschede – und wo liegt Meschede? Richtig! Im Sauerland. Wir erinnern uns an Bundespräsident Heinrich Lübke, alter Nazi und ehemaliger Chef im Büro von Hitlers Architekt Albert Speer, der seine bekannte Rede in Namibia mit den Worten begann: „Geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“ Er war wohl eher ein Stiefkind des Sauerlandes. Julia dagegen ist ganz anders, ein Sonnenkind – aber das weiß ja nicht nur ich, auch Euch brauche ich das nicht zu erklären. Das Sauerland mit seinen tausend Bergen steht längst als Frühlingsreise mit Anemonen und löwenzahnübersähten Wiesen auf unserem Programm, aber das gehört nicht hierher.

Nun erst mal nach Dresden, weil ich ja der Ältere bin. Und weil es von DERTour ein spottbilliges Angebot gab. Schlappe 235 Euro pro Person mit ICE von Stuttgart, City-Card und vier Übernachtungen incl. Frühstück im Viersterne-artotel am Kongresszentrum hinter der Semperoper. Am 17. Dezember hatte ich meine Abschlussvorlesung an der Hochschule für Technik in Stuttgart. Noch eine Nacht im lärmigen Intercity-Bahnhofshotel und dann vom 18. bis 22. Dezember nach Dresden.

Wir übergehen die DB-üblichen Verspätungen und Umleitungen, mit mangelnder Auskunft und ausgefallenem ICE wg. Radreifenproblemen, die uns unvorhergesehener Weise einen Zwischenaufenthalt in Leipzig bescherten. Die Stunde Wartezeit auf den nächsten Anschluss nach Dresden nutzten wir zu einem Spaziergang durch den Bahnhof. Dessen gewaltige historische Hallen waren im Zuge der versprochenen blühenden Landschaften in ein riesiges Kaufhaus mit Gleisanschluss verwandelt worden. Gläserne Aufzüge verbinden nun eine dreigeschossige Shoppingmall unter der Verteilerhalle vor den Gleisen. Alles war sehr geschmackvoll vorweihnachtlich beleuchtet. Staunend wie die Provinzler schlenderten wir durch die Läden in denen alle Marken und Labels vertreten waren. Schließlich landeten wir in einer mondänen Bierbar, von der man aus angemessener Höhe die riesige Eingangshalle mit ihren Geschäften und den sich drängenden Menschenmassen überblicken und sich dabei Maisels Dampfbier einfüllen kann. Allein wegen des umgebauten Bahnhofes, dessen Verkehrskathedrale vor dem Ersten Weltkrieg einmal der größte Deutschlands war, lohnt sich ein Abstecher nach Leipzig. Schließlich kommen wir doch noch im Bahnhof Dresdner Neustadt an. Es ist stockfinster.

In der regentriefender Dunkelheit erkannten wir bald, dass keine Taxis zur Verfügung standen. Wir patschten mit den Rollenkoffern und eingezogenen Köpfen über den neu gestalteten Bahnhofsplatz zu schön designten Wartehäuschen. Dort stand schon die Tram Nr. 11 und nahm uns zwei Stationen mit. Eine ausnehmend freundliche Dresdnerin sorgte sich um uns Fremde, stieg mit uns aus, erklärte uns, wie man bei grüner Ampel die Zebrastreifen überquert und dass unter der gegenüberliegenden gigantischen Leuchtschrift „Hotel“ sich unser gesuchtes „artotel“ befände. Wir überquerten folgsam und trafen in der Hotelhalle auf ein riesiges aufgeschnittenes gelbes Ei in dem uns ein ebenfalls designtes Mädel entgegennahm und für alles weitere eine Magnetkarte überreichte.

Designhotel – überall Bilder von a.r.penck. Sie bestehen in der Hauptsache aus schwarzen Strichmänchen mit gewaltigen Schwänzen vor grellen Farbflecken. Sie treten inflationär auf. Am nächsten Morgen sehen wir, dass auf der Gebäudespitze des auf dreieckigem Grundstück zwischen Maxstraße und Ostraallee errichteten Hotelbaus ein überdimensionales Penck-Strichmännchen mit baumelndem Riesenpenis steht, der den weniger designbewussten Dresdnern ein Dorn im Auge ist – ein Sittenstrolch, weithin sichtbar von der Semperoper, dem Kongresszentrum und dem Erlweinspeicher. Na sowas!

Zurück ins Zimmer. Zunächst sind wir total begeistert von dem großen Raum. Der läuft vorne spitz zu, denn wir sind im vierten Stock über dem Straßendreieck. Eine raumhohe Fensterwand trennt uns fast schalldicht von der Umwelt. Dafür rauscht die Klimaanlage. Vor der Fensterwand, die in der Raumspitze endet, ein Tisch, der über ein Edelstahlrad auf einer in den Boden eingelassenen Schiene sich so verschieben lässt, dass – oh Designwunder! – tatsächlich sich zwei Menschen nacheinander auf scharfkantige Designerstühle in der Enge des Dreiecks setzen können. Wir verzichten während der vier Tage darauf. Auf der Edelholzplatte des Tisches eine aufgestellte Grußkarte des Hotels. Dahinter drei Mineralwasserflaschen mit Preisschildern: die größere 5.70 €, die mittlere 3.00 € und die Miniflasche großzügigerweise umsonst.
Ein Designergestell erinnert an das Knochengerüst einer ausgestorbenen Dinosaurierspezies und trägt einen Fernseher in der Größe einer Kleinwagengarage. Davor zwei knallrote, gigantische Sessel, die sich sofort als hinterhältige Falle entpuppen: beim Probesitzen klappen sie fernseheinschlafgerecht nach hinten. Aufstehen ist nur mit externer Hilfe möglich. Wir haben während der vier Tage nicht ferngesehen. Übrigens gibt es noch einen weiteren kleineren Fernseher, eingelassen zusammen mit der Minibar in der Schrankwand gegenüber dem Bett – für diejenigen, die im Bett Pornos sehen wollen.

Die Schrankwand quillt vom Flur schwungvoll ins Zimmer. So riesig sie aussieht, so wenig geht hinein. Dort, wo gerade ein paar Kleider an Bügel gehängt werden könnten ist es stockfinster. Der Gast fummelt verzweifelt herum bis er einen der diebstahlsicheren Bügel aus der Plastikhängevorrichtung herausgepopelt hat. Dann fällt die Chose mehrfach runter bis man den Einhängeschlitz schließlich wiedergefunden hat. Design oder nicht design ist hier die Frage.

Überhaupt die Beleuchtung! Sie lässt sich nur anschalten wenn man im Dunkeln einen Schlitz (schon wieder!) ertastet hat, in den man die Karte zum Türöffnen hineinstecken muss. Nach dem dritten Versuch, einmal die Vorderseite, dann die Hinterseite und schließlich umgekehrt, strahlt Licht auf. Über jedem Bett eine Autolampe mit eingeschaltetem Fernlicht. Das sind die Nachttischlampen, die jede kuschelige Romantik schon im Ansatz unterbinden und jeden noch so kleinen Pickel erbarmungslos hervortreten lassen. Vor der Fensterwand hängt eine umgekehrte silberne Glocke, aus der ein Tempotaschentuch dem Gast mittels rauschendem Luftgebläse entgegenwedelt – zu Begrüßung, wie uns Design-Ignoranten später von der Rezeption geduldig erläutert wird. Es dauert etwas bis wir den Schalter gefunden haben um diesen geräuschvollen Unfug abzustellen. Dafür ist inzwischen der Sonnenschutz heruntergegangen. Wir werden ihn vier Tage nicht brauchen und vier Tage bleibt es dämmrig im Zimmer weil wir ihn nicht wieder hochbekommen. Immerhin ein Vorteil, dass uns niemand beobachten kann wenn wir splitternackt hinter unserem raumhohen Schaufenster herumlaufen, z.B. ins Bad.

Das Bad ist sonnig gelb mit blauen Punkten gefliest. Durch ein Fenster könnte man vom Flur hineinschauen wenn es nicht mit Mattglas verschlossen wäre. Darüber steckt eine Plastikorchidee in einem Edelstahlreagenzglas. Am dritten Tag gelingt es uns sie per Zufall über einen der zahllosen Schalter zu beleuchten als wir wieder einmal versuchten den Sonnenschutz hochzufahren. Bidet gibt es keins, die deutschen Gäste waschen sich offenbar nur das nötigste im freistehenden Waschtrog vor einem wandhohen Spiegel, den man nach jedem Händewaschen komplett abtrocknen muss. Das Gelbe vom Ei im gelben Bad ist jedoch die eierförmige Badewanne, die – schräggestellt – viel Platz wegnimmt ohne das zwei Personen so richtig bequem drin sitzen können. Dafür verfügt sie über zwei Handbrausen, deren eine defekt ist und die andere so hängt, dass im Fliesendreieck zwischen Wanne und Raumecke noch ein zusätzlicher Ablauf angebracht werden musste. Dennoch steht dort mangels Gefälle immer das Wasser und bildet zusammen mit dem dauerelastischen Kitt der Verfugung eine hübsche Schimmelkolonie. Design lebt! Auch wenn es ein wenig unpraktisch ist.

Wir sind zu müde um noch in ein weniger designtes dafür aber gemütliches Restaurant auszugehen. Also Abendessen unten im Restaurant, das den Charme einer Betriebskantine verströmt – natürlich hängen auch dort reichlich schwarze Strichmännchen mit teilweise tropfendem Gemächt. Kein Wunder, dass wir die einzigen Gäste sind. Die anderen sind wohl in den dunklen Regen hinaus geflüchtet oder haben sich anregen lassen und vergnügen sich schon im Designerbett. Wir sitzen vor roten bodenlangen Vorhängen hinter denen Stapelstühle verstaut sind und fühlen uns wie in der Statistenkabine einer Volksbühne. Da wir allein sind werden wir von einer etwas hilflosen Blondine übermäßig wenn auch nicht sehr professionell bedient.

Frühstück gibt es vom ewig reichhaltigen Buffet wahlweise in diesem optischen Gefrierschrank mit den überdimensionierten Badehandtüchern, die zur akustischen Dämmung an Stangen von der Decke baumeln oder im ähnlich ungemütlichen plastikgepolsterten Cafè neben dem Foyer, wo ein mit bläulichen Elektrokerzen designter Weihnachtsbaum eine frostige Stimmung verbreitet. Wer Bistroatmosphäre einatmen will begibt sich in ein dazugehöriges Schnellrestaurant direkt neben dem von außen gut einsehbaren Fitness-Studio, in dem sich verschwitzte JungmanagerInnen in schlabbrigen Trainingsanzügen an den üblichen Marterinstrumenten abquälen. Das fördert den Appetit im roten Designbistro, wo zwei sächselnde Jungblondinen eine schon längst vergessen geglaubte DDR-Grenzer-Unfreundlichkeit verbreiten. Vielleicht ist es hier deshalb ständig gähnend leer trotz aller westlichen Designbemühungen.

Die Vier-Sterne-apartotel-Designerwelt treibt uns rasch hinaus. Über mehrere verkehrsbrüllende Straßenkreuzungen und unter den S-Bahngeleisen hindurch erreichen wir im strömenden Regen das Krankenhaus in der Friedrichstadt. Es liegt gegenüber dem Geburtshaus von Ludwig Adrian Richter, an den eine Bronzeplakette erinnert. Eigentlich wollte ich in das benachbarte Café Friedrichstadt, das zum gleichnamigen Hotel gehört, in dem ich beim letzten Dresdenaufenthalt wohnte. Aber es ist alles geschlossen obwohl innen Licht brennt. Ein offensichtlich arbeitsunlustiger Mitarbeiter winkt lässig ab. So gehe ich mit Julia in die HNO-Abteilung des Krankenhauses wo ihre beginnende Mittelohrentzündung freundlich, kompetent und Gottseidank erfolgreich behandelt wird. Gerade hatte sie eine Mittelohrentzündung auf dem rechten Ohr mit viel Antibiotika überstanden. Hier gelang es, den Anfängen auf dem linken Ohr mit einem Inlay erfolgreich zu begegnen. Dann aber rasch los mit der Straßenbahn zum Altmarkt. Wir essen ein leckeres Süppchen im Trödelcafé, das mit originellen Gegenständen auf sympathische Weise randvoll gestopft ist während draußen der Regen rauscht.

Die Stadtrundfahrt auf dem Oberdeck des roten Busses entwickelt sich zu einer interessanten Unterwasserfahrt. Der Fremdenführer entpuppt sich als eine Art literarischer Kabarettist, dessen Texte einem Erich Kästner alle Ehre gemacht hätten. Später unterhalten wir uns im Café der Molkerei Pfunds und es stellt sich heraus, das dieser Hobbyliterat nur gelegentlich aus Freude an der Sache den Fremdenführer spielt. Er ist so alt wie ich und erinnert sich ebenfalls an die Schrecken der Zerstörung Dresdens am Aschermittwoch 1945. Es ist eine sehr sympathische Begegnung mit einem humorvollen und kritischen Dresdner des alten Schlags. Die Rundfahrt überrascht uns mit vielen blitzblank renovierten Altbauten – vor allem bei den Villen in Blasewitz – und zahlreichen Neubauten. Vieles erscheint fast schon zu perfekt, bisweilen auch aufgedonnert. Manchmal wäre auch Weniger Mehr. Häufig bläht sich westdeutsche Investorenmentalität zwischen Überresten vergammelter DDR-Zeiten – eine merkwürdige gesamtdeutsche Mischung aus Design, Schein und armseligem Sein. Der Bus hält wieder am Altmarkt und wir geraten in den Striezelmarkt.

Hier kaut jedermann auf Thüringer Bratwürsten herum und schluckt Glühwein aus Pappbechern. Die feuchte Luft ist fettqualmumwabert und Stille-Nacht-Heilige-Nacht durchklimpert. Die weihnachtskitschbehängten Holzhütten der Anbieter von Stollen, Erzgebirgsengel und asiatischen Plastikweihnachtsmännern aus den Billigproduktionsländern haben sich vom Altmarkt aus krebsartig durch die neue Altstadt gefressen und vermitteln eine Art Oktoberfeststimmung. Im derzeit mit Planen verhängten Georgenhof des Wettinerschlosses stehen die Glühweinvernichter bis zu den Knöcheln im Schlamm. Hier sei der Original-Striezelmarkt, wird behauptet. Tatsächlich sind die Verkäufer in mittelalterlicher Tracht verkleidet während amerikanischer Gospel aus den schrankgroßen Lautsprechern so laut dröhnt, dass sich die echten Trachtenträger auf dem Fürstenzug hinter der Mauer die Ohren zu halten müssen damit keine Mosaiksteinchen aus der Wand fallen. Julchen kauft noch schnell einen Herrenhuter Zusammensteck-Stern mit Innenbeleuchtung, dessen Kunststoffteile wir später in Brixen unter Aufopferung aller Fingernägel zusammensetzen werden. Dann fliehen wir in die Frauenkirche.

Die Dresdner Frauenkirche mit ihrer für die Silhouette Dresdens so charakteristischen Kuppel wurde 1722 begonnen und 1743 – sechs Jahre nach dem geheimnisvollen Tod ihres Erbauers George Bähr – die Legenden reichen vom Selbstmord bis zur Ermordung durch den Konkurrenten Chiaveri - fertiggestellt. August der Starke, der Auftraggeber, war bereits 1733 gestorben. Auch er hat die Kuppel nicht mehr erlebt. Diese Kuppel war eine statische Rarität und immer einsturzgefährdet. Sie erhielt 1934 einen Ringanker aus Beton zur Stabilisierung. Dem 14-stündigen Luftangriff am 13. Februar 1945 von 800 Bombern der Amerikaner und Engländer hielt sie zunächst stand. Sie war am 14. Februar von der Terrasse unseres Hellerauer Hauses noch sichtbar. Ich erinnere mich an Omis Ausruf: „Gottseidank steht die Frauenkirche noch!“ Aber schon am 15. Februar sackte sie in sich zusammen, ausgehöhlt vom Feuersturm, der nicht nur das Mobiliar entzündet hatte sonder auch das in der Krypta eingelagerte Filmarchiv der Nazis explodieren ließ. „Auferstanden aus Ruinen“ lautete die Nationalhymne für die sog. DDR von Johannes R. Becher. Durch den Wiederaufbau, dessen Kosten von rund 200 Mio. Euro auch durch Spenden von zahllosen Menschen aus vielen Ländern mitgetragen wurden bekommt dieser dämliche Kommunistensong endlich einen Sinn. Hatten doch Ulbrich & Co. 1959 einen großen Teil der Ruine abtransportieren lassen um einen Parkplatz für Regierungsfahrzeuge zu schaffen. Immerhin blieben noch so viele von den Trümmersteinen übrig, dass rund die Hälfte des Wiederaufbaus damit errichtet werden konnte. Eine Meisterleistung!

Die vorweihnachtlich gestimmten Menschen drängten sich im Kirchenraum und in der Krypta, die 2004 durch das Hochwasser der Elbe überschwemmt wurde. Die Spuren sind noch an den Wänden zu erahnen. Sonst ist alles so neu und schön, wie es wohl niemals war. Geschichtsträchtige Patina lässt sich eben nicht kaufen. Nur die Bänke sind von so protestantischer Kargheit, dass man es nicht länger als zehn Minuten darin aushält. Dann wird man sowieso von der Menschenmenge wieder ins Freie gespült. Dort erwartet uns der merkwürdige Architekturmix der neuen Altstadt. Abgerissen wurden zunächst die grauenhaften Betonkisten mit den goldglänzenden Sonnenschutzfenstern des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates. Leider blieb der scheußliche Kulturpalast von dieser Architektursäuberung bisher verschont.

Neu gebaut wurde auf der Struktur der ehemaligen Barockstadt. In den alten Grundstücksgrenzen entstanden Büro- und Geschäftshäuser teilweise mit sogenannten „Toupetwohnungen“ (Wohnungen in den Dachgeschossen für exklusive Mieter oder steinreiche Käufer). Die alten Bauvolumina wurden maßstäblich gewahrt, die Details aber bemüht modern gestrickt bisweilen aber auch mit Barockschnörkeln nach alten Fotos garniert. Eine seltsame Mischung, die irgendwie artotelmäßig wirkt. Oder wie eine überschminkte Dame aus nicht ganz so gutem Hause. Die Funktionen sind von Kopf bis Fuß auf shopping eingestellt. In den Blöcken drängen sich die über Durchgänge erreichbaren Labelläden die heute in jeder Shopping-Mall von Flughäfen oder Touristikdestinationen zu finden sind. Mitbringsel einzukaufen – das lohnt sich nicht mehr. Das Zeug von Aigner über Gucci bis Zanetti ist inzwischen überall erhältlich. Globalisierte Langeweile zu Höchstpreisen. Dresdens neue Altstadt ist also eine touristische Einkaufsmeile im artotel-Design geworden.

Eine der ehemals elegantesten Einkaufstraßen Europas war wohl die Pragerstraße. Sie wurde vor dem Krieg in einem Zuge mit den Champs-Elysée und der Via Veneto genannt. Auch hier brachten es die Arbeiter und Bauern unter der Führung des ersten kommunistischen Oberbürgermeisters zu bemerkenswerter und weitläufiger Einöde beim Wiederaufbau. Alle Spuren der ehemaligen Altstadtstruktur wurden radikal gelöscht und im Sinne des sozialistischen Zukunftsmenschen neu erdacht. Die längste Plattenwohnbauanlage entstand - sozialistischer Rekord im Wohnknastbau! – ein Kaufhaus mit einer Alufassade im Waffeleisendesign und ein öder Hochhaustyp, der wie ein schlechter Witz gleich mehrfach, in diesem Fall viermal, erzählt werden musste weil niemand lacht. Dazwischen weitläufige und zugige Platzräume mit flachen Wasserbecken und Plastiken im Stil des sozialen Realismus der kleinbürgerlichen Spießer. Einfach nur grauenhaft öde aber genau passend zur Ossi-Freizeit. Die saßen dann dort auf den Bänken und beobachteten ihre Nachbarn – IM Stasi läßt grüßen!

Immerhin hatte die Auferstehung aus Ruinen soviel Platz zwischen den Plattenbauten gelassen, dass die Wessi-Investoren noch ordentlich was dazwischen bauen konnten. Und das taten sie in den letzten Jahren mit den Bauherren Deutsche Bank, Karstadt, Hertie, Würth und allen, die im Schöner-Kaufen-Land Rang und Namen haben. Dazu noch einen Betonbunker mit Fußabtreterverkleidung: Ein Multiplex-Kino mit 4.500 Sitzplätzen der Architekten Co-op Himmelblau aus Wien. Ein richtiger Architektur-Schmäh, der die gleiche Tristesse ausstrahlt wie früher die nun meist wärmegedämmt verkleideten Hochhausplattenbauten, in denen jetzt Hotels mit tausenden von Betten und einigen teuren Bars für die happy-hour untergebracht sind. Irgendwas mit Plaza, Best-Western und King-Size. Man kann sagen, dass die Wiener Architekten durchaus den Stil der Fröhlichkeit der Massen getroffen haben, die heute mit meist hängenden Lefzen unzufrieden durch die schöne neue Einkaufswelt des mittleren Preissegments schieben und nach Schnäppchen suchen. Dazwischen gibt es wieder Thüringer Bratwurst („folgen Sie dem Geruch!“) und nasse Fischsemmeln bei Nordsee (besonders lecker bei nasser Kälte).

Mit vom Wind gebeuteltem Familienschirm, 10 € bei Kaufhof, erreichen wir den Wiener Platz. Dort ist gegenüber dem Hauptbahnhof ein Geschäftshaus entstanden mit einer mittigen Glaskugel, die über alle Geschosse geht. Mit einem gläsernen Aufzug erreichen wir den obersten Stock dessen gerundete Glashaut gerade vom Regen gewaschen wird. Darunter befindet sich eine „Sky-Bar“. Ledersessel vom Feinsten. Aber kein Service. Dafür feine Klos zum längeren Verweilen mit Blick auf den Hauptbahnhof. Den hat der britische Stararchitekt (man gönnt sich ja sonst nichts!) Sir Norman Foster mit weißen Trevirafolien überspannt – nicht schlecht! Darunter kommen gerade grölende Fußballfans in Sonderzügen an. Irgendein Lokalderby. Überall Polizei mit gezückten Schlagstöcken und zähnefletschenden Schäferhunden. Wir flüchten hinaus in den Regen und quetschen uns – misstrauisch beäugt – durch die Mannschaftswagen der Staatspolizei.

Dann stehen wir vor der Villa Liebigstraße 7. Ich zeige Julia das Fenster, das bis 1928 das Kinderzimmer meiner Mutter war. Dann wurde das Haus an den Gynäkologen Prof. Rübsamen verkauft und Mami bekam ein neues Zimmer im Haus Hoher Weg 11 in Hellerau. Übrigens ist die 11 nach numerologischen Gesetzen meine Lebenszahl – und auch die von Julia. Die 7 war schon immer meine Glückszahl. Ich wurde nicht nur in der Liebigstraße Nr. 7 im ehemaligen Kinderzimmer meiner Mutter mit Beistand von Prof. Rübsamen auf diese Welt befördert. Julia ist auch noch am 7.7. geboren. Wir staunten also die 7 in der Liebigstraße an, fotografierten uns trotz Sturm und Regen auf der kleinen Brücke über dem Tümpel im Park des Hauses und zählten noch die neuen Bewohner an den Klingelschildern. Es sind jetzt 7. What else.

Am Hauseingang der Prachtvilla wurde eine Bronzetafel angebracht auf der nicht etwa der Name des Erbauers der repräsentativen Villa, des königlich-sächsischen Hofjuweliers Konsul Chrambach – meines Urgroßvaters steht. Er gab im Ersten Weltkrieg dem kriegführenden Kaiserreich Gold für Eisen und verlor sein gesamtes Vermögen durch die Inflation. Auf der Tafel steht vielmehr zu lesen: „Villa Rübsamen. Hier befand sich von 1959 bis 1987 die Frauenklinik der bekannten Dresdner Frauenärztin Frau Sanitätsrat Dr. med. Ursula Rübsamen“. Sicher eine stramme Kommunistin mit Karrierelaufbahn. Der Dank des Vaterlandes für das geliehene und nie zurückgezahlte Gold bestand 1944 im Zwangsaufenthalt meines Großvaters im KZ Buchenwald, den er nicht lange überlebte.

Alles das ging uns durch den Kopf und schließlich weinten wir ein bisschen. Es fiel den vorbeihastenden Passanten im Regen nicht weiter auf. Wir spazierten weiter zur Endstation der Linie 8. Mit breitem Grinsen fuhr der Fahrer ab als wir noch an die sich gerade schließenden automatischen Türen klopften. Ordnung muss sein und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben in der Hausmeister und Schaffnerrepublik. Das war nun schon der zweite kundenfreundliche Akt dieser Art – da hilft auch keine hochvornehme City-Card sondern vielleicht nur der Austausch der ordentlichen Deutschen gegen freundliche ausländische Kräfte. Immerhin konnten wir eine Viertelstunde später quer durch die ganze Stadt nach Hellerau gondeln. Zur Holundersuppe mit Calvados im Kaffee am Marktplatz.

Das graudüster blasende Regenwetter trieb uns zurück in die Tram Nr. 8. Wir stiegen am Albertplatz aus und quälten uns durch Bratwurstwolken und Glühweinströme des über die Elbe bis in die Neustadt übergeschwappten Striezelmarktes bis zum frisch vergoldeten starken August der hoch zu Roß am Eingang der Neustadt dieses Vorweihnachtselend kühn überblickte. Rechts und links von ihm hatte man den Plattenbaufassaden die Haut abgezogen und verpasste ihnen nun Kaisers neue Kleider. Edle Glasfassaden werden den bislang trostlosen Loggien vorgeblendet. Dahinter wird ein wenig Platz geschaffen für teures Residieren in innerstädtischen Kleinstwohnungen. Die Neumieter oder Käufer werden aber – soweit Ihnen dann noch Geld übrig bleibt – nicht wissen, wo sie ihre schweren Geländewagen parken sollen. Tiefgaragen und Parkplätze gibt es ja keine. Aber vielleicht räumt ja bereits die nächste Flutwelle mit den Cayennes und Jeeps auf.

Die Neustadt ist jetzt mit einem ziemlich düsteren, dunkelrot gefliesten Tunnel unter der autobahnähnlichen Uferstraße zu den Regierungsgebäuden mit der Augustusbrücke verbunden. In Zonen-Zeiten hieß sie: Dimitroffbrücke. A.d.Starke soll beim Anblick hübscher Mädel auf der Brücke seinen Kutscher angewiesen haben: Die mit druff! – auf die Kutsche und ab in die königlichen Gemächer. August muss wohl über die ausgeprägteren Teile der schwarzen Strichmännchen von a.r.penck im artotel verfügt haben und sich höchstpersönlich um die Vermehrung seiner Untertanen gekümmert haben!

Wir dagegen haben Karten für das Grüne Gewölbe auf dem stark überteuerten Schwarzmarkt ergattert und müssen uns pünktlich einfinden. Es dürfen nur hundert Besucher gleichzeitig in die grandios wieder hergestellten acht Räume mit dem bedeutendsten Kronjuwelenschatz Europas. So ist es nicht überfüllt und über ein telefonartiges Hörgerät, das jeder mit auf den Weg bekommt, werden die beeindruckenden Sammlerstücke ausführlich erklärt. Wir sind begeistert und tief beeindruckt, dass diese Schätze zu großen Teil den Feuersturm der Bombennacht, die Gier der plündernden Roten Armee und den Krämergeist der Zonie-Politiker überstanden hat. Die eisernen Fensterläden haben das Feuer abgehalten aber die größten Schäden sind durch das durchtropfende Wasser in der Ruine des Schlosses entstanden. Die Russen haben natürlich die verbliebenen Preziosen eingepackt und mitgenommen. 1958 wurden sie mit schmatzendem sozialistischen Bruderkuss zurückgegeben und fanden zunächst im Albertinum ihren Platz. Dort habe ich sie auch zum letzten Mal gesehen. Aber jetzt in den original wieder hergestellten Räumen!

Dann gibt’s nach altem sächsischen Brauch „Gaffe un Guchen“ im Coselpalais. Gut hatte es die Gräfin Cosel dort als sie - noch jung und schön - die Geliebte des Königs war. Immer Glühwein und Stollen – so wie wir heute. Und Eierschecke! Aber als sie dann einschrumpelte, zu intrigieren begann und eine adlige Zicke wurde, da verbannte sie der wohl alterslose und starke August auf die Festung Königstein wo sie verbittert starb.

Immerhin das Palais gibt es wieder, ein Schlaraffenland für Kakao, Baumkuchen und „göstlische“ Kleinigkeiten. Auch der überteuerte sächsische Wein ist glasweise zu haben. Gut ist er ja geworden. Wir verschnaufen zwischen nassen Mänteln und sehr viel ostdeutschem Blondhaar in Begleitung erfolgreicher Männer vom Consultingtyp, nippen am trocknen Müller-Thurgau und sinnen dem Reichtum des Grünen Gewölbes nach. Welche Handwerkskunst, welche Kultur, welche Feinheit der Bearbeitung, welch Geschmack! Und was bringen wir heute vergleichbares hervor? Geländewagen mit 550 PS, unaufhörlich klingelnde handys und Laptops, deren ständige Softwarewechsel uns allmählich rasend machen. Was müssen die Menschen vor 250 Jahren für Zeit gehabt haben - ohne SMS, e-mails und websites. Kriege gab es genauso wie heute und die Herrschenden haben die Straußeneier aus dem Schweiß der Leibeigenen mit Diamanten besetzen lassen.

Große, fein ziselierte Gold- und Silberschalen mussten wieder eingeschmolzen werden um daraus Münzen für die Söldner im Krieg gegen den Preußenkönig zu schlagen, der deshalb nur der „Große“ hieß, weil er wie alle „Großen“ Staatslenker nur Krieg, Elend und große Verwüstungen über seine armen Untertanen brachte. Wegen seines dilettantischen Quergeflötes hat der kleine schwule Friedrich sicher nicht diesen Beinamen erhalten. Nur weil er schließlich durch den Tod Katharinas (der durch ihre Grausamkeiten ebenfalls „Großen“ deutscher Herkunft) mit Glück seinen siebenjährigen Krieg gewonnen hat. Damals wurde Dresden schon einmal heftig zerstört und die preußischen Geschichtsoberlehrer haben ihren Militärdiktator so benannt. Nicht auszudenken, zu welcher Größe der ebenfalls schwule Adolf Hitler aufgeblasen worden wäre, wenn Preußen seinen letzten Krieg gewonnen hätte. Dafür ist es aber dann von der Landkarte verschwunden – wenn auch mit ihm nicht alle unbelehrbaren Neonazis – aber Sachsen gibt es noch immer. Auch wenn die sächsichen Vopos in der DDR die besten Mauerschützen abgegeben haben. Aber das ist wieder eine andere Geschichte aus dem Reich der falschen Fuffziger.

Mein Vater hat diesen Ausdruck geprägt, als ich mich um eine Professur in Dresden bewerben wollte: „Du willst doch nicht etwa zu den falschen Fuffzigern ziehen?“ Meine Pläne zerschlugen sich sehr schnell, als ich zur Geburtstagsfeier des damaligen Architekturdekans der Technischen Universität Dresden eingeladen wurde. Der Dekan suchte um Unterstützung beim BDA nach, dessen Präsident ich damals gerade war. Seine Absicht war es, die alte Professorengarde aus DDR-Zeiten – inzwischen alles „vigilante“ (frz. sprich: fischelante = wachsame, schlaue, sich durchmanövrierende) Wendehälse – bei der westlichen Neuorientierung der TU weiter in Amt und Würden zu bestätigen. Dafür sollte mir eine Stelle als Prof. angeboten werden. Die Geburtstagsfeier fand in den Räumen der Architekturabteilung statt. Es gab Schnittchen, von den Sekretärinnen geschmiert und herumgereicht. Wie im Westen. Dazu Rotkäppchen-Sekt, damals im Westen noch was Neues, inzwischen der meistverkaufte Deutsche Sekt. Wird in Freiberg hergestellt und heißt nicht wegen des Märchens so, sondern wegen seiner roten Aluhülse. Der Unterschied zum Westen war nur die Gesangseinlage zu vorgerückter Stunde. Von den Sekretärinnen wurden Blätter mit den Texten sozialistischen Liedguts verteilt und alle grölten los. Ich fuhr zurück ins Hotel und wusste genau, dass ich nicht dazugehören würde. Der Dekan wurde später der erste Präsident der sächsischen Architektenkammer – immer auf der richtigen Seite. Er erhielt auch sein zwischenzeitlich konfisziertes Wohnhaus im Weinberg unter dem Weißen Hirsch zurück, musste aber der westlichen Erbengemeinschaft einen angemessenen Kaufpreis zahlen. Seine Lebensgefährtin brachte ihre Erfahrungen und Beziehungen in eine westliche Architektengemeinschaft ein, die damit nicht schlecht fuhr. Gott habe ihn seelig – deutsche Lebensläufe.

Wieder auf den Schwarzmarkt: Die Semperoper ist wie immer ausverkauft. Offenbar geht ein größeres Kontingent an fischelante Zwischenhändler. Jedenfalls wurde ich vom Tourismusbüro in der Schinkelschen Hauptwache am Opernplatz auf einen Herren im gelben Ostfriesen-Nerz verwiesen, der im Haupteingang des Opernhauses weithin sichtbar stand. Tatsächlich bot er uns mehrere Sitzplatzmöglichkeiten an. Angesichts der um das dreifache erhöhten Preise entschieden wir uns für zwei „Hörplätze“, dritter Rang rechts. Hörplätze sind, wie der Name schon sagt, Sitzplätze auf denen man nichts sieht – dank der genialen Konstruktion der Ränge von Architekt Gottfried Semper. Von diesen Plätzen kann man zwar in die Königsloge sehen aber nicht auf die Bühne, es sei denn man stellt sich – was die dahinter Sitzenden nicht sonderlich schätzen. In den Zeiten der sächsischen Könige war diese Betrachtungsweise des Operngeschehens sicher wichtig. Wir dagegen fanden die geldigen Proleten, die sich in der ehemaligen Königsloge mit ihren aufgedonnerten Begleiterinnen produzierten nicht sonderlich sehenswert. Da wären die silberbeschlipsten Funktionäre der SED noch komischer gewesen. Beide aber haben oder hatten etwas gemeinsam: sie kommen zu spät, werden trotzdem eingelassen, alle werden so auf sie aufmerksam.

Dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten – auch jener in der ersten Reihe Parkett, wo sich die Besucher erst dann setzen, wenn alle sie gesehen haben und der Dirigent eintrifft – drehte sich diesmal um Humperdincks „Hänsel und Gretel“. Wir waren auf die romantische Musik gespannt aber unsere musikalischen Erwartungen wurden weit übertroffen – das Orchester war einfach fabelhaft und musizierte wie ein Mann/Frau ohne Tadel. Der Clou war aber eine märchenhafte Inszenierung im wahrsten Sinne des Stückes! Soviel Charme, Fantasie und überraschende Einfälle hatten wir nicht erwartet! Auch wenn wir weit über die Brüstung gelehnt nur die halbe Bühne sehen konnten waren wir restlos fasziniert.

Darüber konnte man alles andere an Unbequemlichkeit dieses architektonisch weit überschätzten kitschigen Opernhauses vergessen. Wer einmal etwa in der Oper von Sydney war – dem Meisterwerk des dänischen Architekten Jörn Utzon – in der man von allen Plätzen die Bühne ganz übersieht und deren Akustik ebenfalls makellos ist, wird verstehen, was gemeint ist. Auch wenn er mal in der Pause aufs Klo muss und/oder sich ein Gläschen gönnen möchte. In der Semperoper geht nur das eine oder das andere. Keine der blasierten platzanweisenden Mädels weiß etwa wo die versteckt angeordneten und sich dann als total überfüllt erweisenden Toiletten befinden. Sie helfen andererseits auch nicht der Bardame, die im Einfraubetrieb es nicht schaffte, allen geduldig Anstehenden noch vor dem Pausenläuten ein klitzekleines Glas Sekt-Orange zu Schwarzmarktpreisen einzuschenken. Diese wohl nur zu dekorativen Zwecken eingestellten und kostümierten arroganten Dummchen haben wohl am besten von ihren noch DDR-Eltern die Inkompetenz der Arbeitsunwilligen gelernt. Basta!

Danach – husch, husch – durch den Regen hinüber ins Italienische Dörfchen. Im Erdgeschoss tote Hose um diese Zeit. Aber im Obergeschoss, in das wir uns schließlich hinauf verirrten, waren im Restaurant „Bellotto“ fast alle Tische besetzt. Dennoch fand die wirklich sehr professionelle Bedienung noch ein schönes Zweiertischchen unter Palmen für uns. Und es gab italienische Köstlichkeiten vom Allerfeinsten, begleitet von einem perfekten Service, hervorragendem Müller-Thurgau vom Schloss Wackerbarth und unserer allerbesten Laune von der schönen Opernaufführung. Verliebt schauten wir uns in die Augen und ich erzählte Julia, dass meine Eltern 1940 ihre Hochzeit im Italienischen Dörfchen gefeiert haben. Glücklich, unter den Schirm zusammengekuschelt, erreichten wir unser nahes artotel durch den dunklen Park hinter der Semperoper, wieder lustig begrüßt durch das wedelnde Tempotaschentuch aus der umgekehrten Hotelsilberglocke vor dem Zimmerfenster. Die Fernlichter der Autoscheinwerfer über dem Bett gaben dem Abend den strahlenden Rest.

Nach drei Flaschen Müller-Thurgau zu den diversen Mahlzeiten der letzten Tage wollte ich es als Weinfreund und Sommelier genau wissen: Wie wird in der traditionellen Sekt – und Weinkellerei Wackerbarth nach all den Wendereformen heute vinifiziert? Wie rechtfertigen sich die hohen Preise? Stimmt das Verhältnis Preis zu Produkt oder schlagen die Dresdner Gastwirte nur unverschämte Quoten auf den Einkauf? Vorweggenommen: diese letztere Annahme stimmt – nirgendwo fühlt man sich derzeit mehr geneppt als in der Dresdener Gastronomie. Ausnahmen bestätigen die Regel: dazu gehört z.B. das Aussichtsrestaurant in der ehemaligen Tabakfabrik „Yenidse“. Doch davon später.

Zunächst tranken wir uns am Sonntagmorgen, dem vierten Advent, mit Bier Mut an. Und zwar in der stadtbekannten Brauerei Watzke. Das schöne Gebäude aus der Gründerzeit liegt direkt an der Elbe, etwa auf dem halben Straßenbahnweg nach Radebeul und dem Weingut Wackerbarth. Dort wird das eigene Bier vor den Augen der Gäste gebraut. Im Erdgeschoss sind schöne Gasträume mit dunklem, gemütlichen Mobiliar und einem Prachtblick auf die legendäre und nun wieder hergestellte Silhouette des „Elbflorenz“. Im Obergeschoss gibt es einen der wenigen noch erhaltenen Ballsäle Dresdens. Da werden Hochzeiten und andere Feste mit Musik, Tanz und viel Bier gefeiert – eine alte, fast ausgestorbene Tradition. Am Sonntag wird vormittags im „Watzke“ normalerweise Jazz gespielt – deshalb waren wir hier. Zugunsten der vorweihnachtlichen Adventsstimmung bemühten sich heute aber drei Musiker mit Bass, Trompete und Ziehharmonika um die bekannten Weihnachtslieder. Wir tranken das Weihnachtsbier mit Honig und waren entzückt. Die ersten Familien trafen ein und belegten die vorbestellten Plätze. Fettbemmchen, Würste und Gänsekeulen wurden zur Begleitung des süffigen Bieres aufgefahren. Am liebsten wären wir geblieben – aber Wackerbarth war nun einmal auf dem Programm.

In Radebeul angekommen, im Nieselregen zwischen ehemals edlen Villen und neuen Baumarkthütten im Gut Wackerbarth angelangt, staunten wir nicht schlecht. Zwar wies eine für die Ewigkeit gegossene Bronzetafel am Eingang auf ein Treffen ostdeutscher Kommunisten mit den russischen Machthabern im Jahre 1945 hin - Typhus und anderen Krankheiten sollte vorgebeugt und unter dem Schutz der glorreichen roten Armee der Weg in eine brüderliche sozialistische Zukunft beschritten werden – aber sonst hatte modernste Architektur für die Weinkellerei und den Verkauf Platz neben dem schönen alten Herrenhaus gefunden. Im ehemaligen Reitstall wurde ein luxuriöses Restaurant eingerichtet, in dem wir unterkühlt wirkende Damen mit ihren vornehmen Begleitern im grauen Flanell und arroganten Bankergesichtern antrafen. Für zwei espressi zum doppelten Preis einer fashionablen Mailänder Bar reichte es noch. Auch hier – laut Karte - der fünffache Aufschlag für den hauseigenen Wein. Wenn die Wessis Besserwessis sind, dann wurden die Ossis zu unverschämten Besserabzockies!

Die Führung durch das hochmoderne Weingut machte eine Sprachstudentin sehr professionell und sympathisch. Ein Event-Keller - so könnte man heute auf denglisch sagen. Bildschirme neben den Rebelmaschinen, pneumatischen Pressen, den temperierbaren Edelstahltanks und im Barriquekeller lassen auch den Laien die Vorgänge der Kellertechnik bei der Vinifizierung gut verstehen. Zum Abschluss kamen drei Weine zur Verkostung. Ein Grauburgunder – trocken ausgebaut mit schöner Frucht, ganz ohne den manchmal etwas öligen Charakter dieser Traubensorte in der Pfalz oder im Veneto, - dem kühlen Klima an der Elbe sei gedankt! – dann ein überraschend feinfruchtiger, dezent aromatischer Gewürztraminer, der als Spätlese nur in halben Flaschen erhältlich ist, erst im Stahltank ausgebaut und dann nur kurz im Holzfass gelagert – zarte Vanilletöne wiesen darauf hin – und schließlich ein Dornfelder Riserva, bei dem die Holztöne des Ausbaus im Barrique eine feine Abrundung der weichen Gerbstoffe ergaben sowie reiche Fruchtnoten von Kirschen und Johannisbeeren große Trinkfreude bereiten. Wir ergänzten die Weinprobe noch durch eine Sektverkostung im Laden und waren begeistert von einem aromatischen Sekt aus der Scheurebe. Der Duft schwarzer Johannisbeeren, eine feine und anhaltende Perlage machten diesen Sekt, hergestellt nach der méthode traditionelle champenoise, handgerüttelt, zu einer höchst eleganten Spezialität – für schlappe 30 Euro! Eine Flasche musste aber für Heiligabend drin sein!

Zurück in der Stadt: Abendessen auf dem „Kahnaletto“ einem ausrangierten Elbdampfer, der zu einem noblen Restaurant mit angeschlossener Kleinkunstbühne umgebaut worden ist. Die unbedingt erforderliche Reservierung hatten wir schon am Vortag gemacht. Jetzt genossen wir den Blick auf die hell erleuchtete Hofkirche von Antonio Chiaveri, der das katholische Gotteshaus für August den Starken erbaut hatte. Der sächsischen Monarch war zum König von Polen gewählt worden und musste aus diesem Grunde im protestantischen Sachsen zum Katholizismus konvertieren. Natürlich benötigte er ein Hofkirche, die er aus dem Wettiner Schloss über einen Schwibbogen aus Stahl erreichte. Wahre Ökumene aus politischen Gründen! Also: links die Hofkirche, rechts die in der Dunkelheit geheimnisvoll unter der Augustusbrücke strömende Elbe. Neun Meter über dem heutigen Stand staute sich das Hochwasser 2004 – was war wohl damals mit dem Restaurant geschehen, in dem wir nun gemütlich saßen und – wie könnte es anderes sein im neureichen Dresden – mediterrane Küche geboten bekamen. Statt roher Klöße oder Quarkkeulchen gab es ein feines Risotto mit Scampis und danach crème brulée – globalisierte Genießerwelt! Und nochmal Müller-Thurgau aus Sachsen. Danach Kabarett im Schiffsbauch und wieder ein stürmischer Heimweg durch den dunklen Park.

Diesmal aber mit einem Abstecher ins „Hotel Maritim“ das in den vom Verfall bedrohten Erlweinspeicher eingezogen ist. Eine imponierende Halle, von oben beleuchtet zieht sich über alle Geschosse. Wieder gläserne Aufzüge – wohl inzwischen ein Dresdner must – lifteten uns nach oben. Ausstieg jedoch nur mit Zimmerkarte möglich, Foto und wieder runter. Ein Blick in die Bar: eine lederschwarze Höhle ohne Gäste, trostlos. Also raus und hinüber ins gleichermaßen trostlose artotel. Noch ein Bier in der Bar? Gähnende Leere! Wo waren denn die Bustouristen, die morgens um 5:30 Uhr mit Getöse bei laufendem Motor ausgeladen wurden? Die schwäbischen Laute der Senioren auf Pauschaltour waren auch durch die schallgedämmten Fenster zu vernehmen. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Später erlebten wir die Prolls beim Frühstück wo sie sich trotz beträchtlicher Leibesfülle vor allem der mitreisenden nahezu quadratischen Muttis herzhaft Rührei mit gebratenem dänischen Speck und Nürnberger Würstchen auf die Teller luden und anschließend mit Ketchup verklebten. Mahlzeit! Dazu Kaffee nach deutscher Art aus einem Edelstahlfass und anschließend was gesundes aus der Körnerecke nach Hühnerart. Alles schön „eingemanscht“ mit rosa Yoghurtbrei. Übertönt wurde das gemeinschaftliche Geschmatze und Geschlürfe mit vorweihnachtlicher Countrymusic von der Gastro-CD mit Jonny Cash. Akustisches Design!

Unser Abschlussabend war versöhnlich, da ohne Design – weder in der Architektur noch in der Speisenfolge. Aus dem artotel kommend fällt der Blick nicht nur auf das schöne neue Kongresszentrum, das die Stahl-Glas Architektur des sächsischen Landtages vom Architekten Peter Kluska fast in gleicher Qualität fortsetzt, sondern auch auf den Erlweinspeicher, der äußerlich sorgfältig nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten renoviert wurde. Außen hat er nichts von der aufgeblähten Angeberarchitektur im Inneren, wo mit Spiegeln, Messing, Chrom und schwarzem Leder die „Maritim“ Hotels den Geschmack von Handlungsreisenden und Kongressfreaks mit ihren jeweiligen Begleiterinnen trifft. Am auffälligsten ist jedoch eine riesige Moschee jenseits des Bahndamms der vom Bahnhof Dresden Neustadt zum Hauptbahnhof führt: der Bau der ehemaligen Zigarettenfabrik „Yenidse“. Er schwebt wie ein Märchenbau aus tausend und einer Nacht über seiner eher etwas ungastlichen Umgebung

Wir hatten gehört, dass sich unter seiner bunten Glaskuppel ein Restaurant befände. Mühsam war die Suche nach einer Telefonnummer zum Reservieren – in keinem Führer wurde darauf hingewiesen. Immerhin fanden wir den Eingang zum orientalischen Märchenschloss. Unter der Kuppel wurden Märchen erzählt, wie in den Souks von Marrakesch. Wir landeten eine Etage tiefer in einem Restaurant, das ringförmig entlang der spitzbögigen Fenster unter der Kuppel angelegt ist. Darüber mögen Märchen erzählt werden – ab und zu kamen glücklich blickende Mütter mit ihren Kleinen herab – darunter geht es deftig zu: Nach einer kräftigen Wildsuppe gab es einen makellosen Entenbraten mit grünen Klößen und zu deren Auflösung in den Gedärmen noch zwei Schnäpse. Die Wirtin war freundlich, die Bedienung flink und die Preise reell – auf den Orient scheint mehr Verlass zu sein als auf den Osten! Es war auf sächsische Weise gemütlich, auch die Gäste waren normal. Das artotel, obgleich in Sichtweite, schien mit seiner affigen Anbiederei an eine falsch verstandene Moderne meilenweit entfernt.

Frage: muss das neue Dresden so abgehoben von der Normalität sein? Eine aufgedonnerte ältere Dame umschwärmt von Nostalgikern? Preise, für die man in Capri die Sonne im Meer versinken lassen kann? Oder Striezelmarkt bis zum Umfallen?

Wir werden versuchen, diesen Fragen im kommenden Sommer noch einmal nachzugehen. Wahrscheinlich gibt’s es in Umgebung der Stadt noch ein paar normale Fleckchen, die es zu entdecken gilt, von denen man auf die wiederhergestellte Silhouhette blicken kann – vielleicht sogar ohne die dann im Bau befindliche neue Elbbrücke von Blasewitz hinüber zum Feldschlösschen zu sehen, wegen der Dresden – hoffentlich! - der Welterbestatus der UNESCO wieder aberkannt wird.
Armes neureiches Dresden, als artotel diesmal in Beschlag genommen von wohlhabenden Geschäftemachern, die sich – wie sie wohl meinen - zu globalem Format aufgebrezelt haben aber genauso ignorant sind wie ihre sozialistischen Vorgänger.

Brixen, Neujahr 2009
Andreas Gottlieb Hempel



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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