Dolomiten Baukultur April 2008
Von der Seele einer Stadt
Brixen hat die am besten besuchte Stadtbibliothek der Region. Etwa 500 Leseratten besuchen täglich das Gebäude am Domplatz. Sie drängen sich in einem seit 25 Jah-ren bestehenden Provisorium auf engstem Raum. Eine Erweiterung ist geplant. Aber wo?
Der große Erfolg der Brixner Stadtbibliothek ist auf einem Blick zu erkennen: sie liegt am Domplatz. Sicher sind die Brixner nicht lesehungriger als andere, die beengten Räumlichkeiten schrecken eher ab, Parkplätze findet man hier nicht – aber: die Stadtbibliothek liegt an der bedeutendsten Stelle der Stadt. Also dort wo man ihre Seele erfasst. Oder besser: wo man von der Seele dieser besonderen Altstadt er-fasst wird, sie spürt und begreift. Wer Brixen besucht, ob Einheimischer oder Gast, der wird immer auf den Domplatz gehen. Er ist nicht nur einer der schönsten Plätze Südtirols, er ist vielleicht sogar der schönste Stadtraum des Landes überhaupt. Auf dem Domplatz erschließt sich die Verschränkung der beiden Seelen Brixens: die geistliche Stadt mit Dom, Pfarrkirche und benachbarter Hofburg sowie - gleichsam diagonal zugeordnet - die Bürgerstadt mit dem Rathaus, der Stadtbibliothek und stattlichen Häusern, durch die man die großen Lauben erreicht. Es ist ein magischer Stadtraum, von über tausendjähriger Geschichte getränkt und mit einer urbanen At-mosphäre, der sich niemand entziehen kann. Ausblicke auf die umliegenden Berge steigern noch die Faszination durch räumliche Durchdringung von Stadt und Umland. Man kommt nicht nur mit einem Ziel hierher. Man verweilt. Eine Kerze im Dom ent-zünden, espresso in einem der vier Cafés schlürfen, beim prosecco schwatzen, im Rathaus etwas erledigen, unter den Lauben einkaufen, in die Stadtbibliothek gehen, ein Buch ausleihen und schon mal die ersten Seiten auf den Bänke im Schatten der Bäume lesen während die Kinder gefahrlos auf dem weiten Domplatz fangen spielen oder am Brunnen plätschern. Hier ergänzen sich die Nutzungen mit den Bedürfnis-sen der Bürger. Die fünfhundert täglichen Bibliotheksbesucher kommen nicht nur wegen der Bücher sondern wegen mehr – der Seele einer Stadt.
Dass diese Stadtbibliothek auf fast skandalöse Weise schlecht, beengt und innen räumlich geradezu unwürdig untergebracht ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Besucher kommen trotzdem, denn sie wollen an diesem Ort, an dem die urbanen Kraftströme zusammenfließen, auch in der Seele der Stadt lesen, sich auch als ein Teil dieser Seele empfinden. Es steht auf einem anderen Blatt, dass Leitung und Mitarbeiter dieses Provisoriums einer Stadtbibliothek von einem durch und durch funktionellen Neubau träumen. Aber sie scheinen nur sich und ihre Funktionsberei-che zu sehen, denn sie hätten diesen Neubau gern am Rande der Altstadt. Auf ei-nem Unort. Auf der Rückseite des Hallenbades „Aquarena“, mit beachball-Plätzen vor der Nase, neben der geplanten Kletterhalle und am größten Parkplatz der Stadt, der in den nächsten Jahren noch mit einer Tiefgarage auf 800 Stellplätze erweitert werden soll. Es handelt sich um eine seelenlose Fläche, lärmig an der Brennerstraße gelegen, Tankstelle, Polizeistation und Supermärkte in Sichtweite. Ein Platz, der kein Kraftzentrum ist sondern der mit Krach und Hässlichkeit Kräfte raubt und nervt. Mag sein, dass hier eine in sich funktionelle moderne Stadtbibliothek errichtet werden kann. Eine Seele wird sie aber nie haben. Ein Café gibt es weit und breit nicht, auch keine Bäume in deren Schatten man schon mal zu lesen beginnt und verweilt wäh-rend die Kinder gefahrlos spielen können. Es wird eine drive-in Bibliothek werden, rein, ausleihen, raus, bloß rasch wieder weg – wir ahnen schon, welch klinisch saub-re Stimmung in der modernen Architektur herrschen wird. Die Seele der Stadt wird am Domplatz zurückbleiben. Und ein weiteres Haus wird dort neben den bereits ver-lassenen Gebäuden leer stehen. Die Seele der Stadt verblasst je mehr sie ausge-räumt wird. Die Läden unter den Lauben werden weitere Kunden verlieren, mindes-tens täglich die fünfhundert Besucher der Stadtbibliothek, vielleicht sogar mehr, näm-lich die Begleitpersonen. Weniger Gäste kommen in die Cafés und weniger Kinder spielen auf dem Domplatz. Auf den Bänken werden Plätze frei. Auch nach den Ker-zen und Fürbitten im Dom und der Pfarrkirche wird sich die Seele der Stadt sehnen.
Man könne eine moderne Stadtbibliothek nur in einem Neubau unterbringen, be-haupten die Bibliothekare, die nur an ihre Funktionen denken und dabei die Seele ihres Hauses vergessen. Die bekämen sie aber am Domplatz gratis dazu, in jedem der drei dort leerstehenden Häusern, der jetzigen Bibliothek mit ausreichender Erwei-terungsmöglichkeit in den derzeit trübseligen Hinterhof, der dadurch aufgewertet würde, dem ehemaligen Finanzergebäude mit einem schönen Garten als Zugabe oder im alten Gerichtsgebäude mit Innenhof. Alle sind Baudenkmäler mit geschichts-trächtigen Räumen, in denen man auch Bücherregale aufstellen kann. Wie man das gut macht, zeigen uns viele europäische Büchereien, die in solchen seelenvollen al-ten Bauten untergebracht wurden und gerade deshalb gerne besucht werden. Man muss nur wollen, gerade in Zeiten, wo es ökonomischer und ökologischer ist, alte Bauten mit neuem Leben zu füllen als schon wieder freie Flächen seelenlos zu verbauen. Es ist der Brixner Gemeinderat, der nun eine Entscheidung fällen muss.
Andreas Gottlieb Hempel
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