Donnerstag, 28.05.2009 | Schütze kommt von schützen

Lieber Herr Tribus,
 
vielen Dank für Ihre Aufforderung sich zu den ethnischen Zwistigkeiten zu äußern.
Ich weiß nicht, ob mir das als Wahlsüdtiroler mit italienischem Personalausweis und deutschem Pass überhaupt zusteht - aber ich kenne nun Südtirol seit 48 Jahren und habe meinen Wohnsitz seit 14 Jahren hier. Ich habe sechs Bücher über Südtirol geschrieben und meine, Land und Leute einigermaßen zu kennen. Vielleicht ist aber auch der Blick eines von "Draußen" ganz hilfreich:
 
Geschichte ist vergangenes Geschehen, das nicht vergessen werden sollte, aus dem man lernen kann. Wer sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzt ist arm dran und verfällt leicht in die Wiederholung alter Fehler. Mag sein, dass "die Italiener" ihre faschistische Vergangenheit nicht immer aufgearbeitet haben - gewiß nicht so selbstquälerisch wie die Deutschen. Mag sein, dass "die Südtiroler" das Unrecht, das Ihnen unter dem Faschismus widerfahren ist, nicht vergessen können. Immerhin hat der italienische Staat mit der großzügigen Autonomie eine Art der Wiedergutmachung geleistet welche den dadurch wohlhabend gewordenen Südtirolern das Verzeihen erleichtern kann.
 
Im täglichen Leben ist dadurch ein ethnischer und sozialer Frieden eingekehrt, um den uns andere "Vielvölkerstaaten" nur beneiden können. Dazu ist die Europäische Union gekommen, welche die Regionen gestärkt hat, so dass es durch die Grenzöffnungen gerade den Südtirolern ziemlich gleich sein könnte, ob sie nun zu Italien oder zu Österreich gehören - immer im täglichen Leben, wo mit Euro sowohl in Bozen als auch in Innsbruck bezahlt werden kann. Im täglichen Leben stören die faschistischen Relikte wie das Duce-Relief, das Siegestor, der Kapuziner-Waschtl eigentlich nur diejenigen, die sich dadurch stören lassen wollen. Ich führe z.B. immer wieder gerne meine italienischen Besucher vor diese Relikte und weide mich - zugegebenermaßen - daran, wie ihnen diese Überreste peinlich sind. In Deutschland sind die Naziembleme ja alle verschwunden - vielleicht wäre es sogar ganz gut, wenn manche noch sichtbar wären und - gut erklärt - als Zeugen einer unrühmlichen Vergangenheit auch den wackeren Deutschen heute noch peinlich sein könnten.
 
Normalität im Alltag - peinliche Aufmärsche feiertags auf beiden Seiten (Schützen und Staatsmacht). Für Menschen von "Draußen" hat das fast schon komödiantische Züge wenn es nicht von diesen Unbelehrbaren so ernst genommen würde.
 
Was könnte aber die Zukunft bieten?
Zurückhaltende Staatspräsenz auf italienischer Seite und Schützen, die ihre Heimat schützen, vor Zersiedelung, vor undemokratisch verfestigten Machtstrukturen im eigenen Haus, vor spekulativem Ausverkauf der Werte ihrer Heimat im materiellen als auch im geistigen Sinne. Denn Schütze kommt jetzt und künftig von schützen und nicht von schießen.
 
Eine weitere Frage ist die Fortentwicklung der Südtiroler Autonomie. In einem zusammenwachsenden Europa kann diese Fortentwicklung nur in Richtung größter regionaler Selbstständigkeit, sprich Selbstverwaltung im lockeren Staatsverband gehen. Das was am italienischen Staat so marode ist und den Alltag so beschwert, könnte in die Südtiroler Selbstverwaltung übergehen: Finanzen, Steuern, Energieversorgung, Straßenbau, Bahn, Post, Telefon usw.usw. - einfach alles das, was das tägliche Leben durch die Verwaltung in der Region effektiver und einfacher machen würde. Nicht nur für die deutschsprachigen und ladinischen Bevölkerungsteile sondern auch für die Italiener, die dabei genauso zu Südtirolern werden können - ohne Ressentiments und ohne Disagio aber mit dem unschätzbaren Vorteil dreier Kulturkreise, gemeinsam überwundener Vergangenheit und einer Zukunft in einem Europa, das schließlich frei werden wird von nationalistischem Denken sondern seinen Reichtum aus der Vielfalt bezieht. Themen zur diskursiven Auseinandersetzung wird es dann immer noch genug geben - aber hoffentlich ohne die unerträgliche ethnische Keule! Als Deutscher wünsche ich den Südtirolern diese friedlichen Einsichten und diese freie Entwicklung als gutes Beispiel im Herzen der EU.
 
Mit freundlichen Grüßen und der Hoffnung
dass sich der friedliche Alltag nur am Rande von dem derzeit so aufgeregten Geschrei der Ewiggestrigen
stören lässt.
Ihr
 
Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.- Ing. Architekt & Publizist
Diplom-Sommelier AIS
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