Dienstag, 16.11.2010 | Synergien einer Stadt

Synergien einer Stadt

Eine Stadt ist niemals fertig, eine Stadt ist kein Museum. Eine Stadt ist ein Prozess, der durch die in ihr lebenden Menschen ständig in Bewegung ist, in Veränderung gehalten wird. Eine Stadt ist ein komplexer Organismus. Je vielfältiger das Angebot, desto lebendiger, je facettenreicher desto mehr Synergien können entstehen. Synergien bilden sich aus den einzelnen Kräften und Faktoren, die eine Stadt anbietet. Diese summieren sich nicht nur, sie können, wenn sie sich konträr oder ergänzend ineinander fügen einen Mehrwert bilden – eben die Synergien.

Jede Stadt hat einen besonderen, unverwechselbaren Charakter. Sonst wäre sie nur Siedlung oder Agglomerat, wie wir es aus den so genannten Schlafstädten zur Genüge kennen. Diese sind so charakterlos, so gleichartig, weil in ihnen nur eine Funktion – die des Wohnens oder besser des Schlafens – vorherrscht. Synergien aus sich wechselseitig anregenden, oft gegensätzlichen aber vielfältigen urbanen Nutzungen, ergeben sich nicht, Langeweile herrscht vor – oder hektische Betriebsamkeit während der Öffnungszeiten wie etwa in Einkaufszentren oder Gewerbegebieten, die wir alle nicht als Stadt sondern als Monofunktion empfinden, sie nutzen aber nicht lebenswert finden.

Kommen die Gäste und Besucher nach Brixen um z.B. den Rosslauf – trotz seiner unbestrittenen Wohnqualitäten – zu besichtigen? Kommen Sie um durch die Gewerbegebiete im Norden oder Süden der Stadt zu spazieren? Machen sie Ausflüge um die Reihenhäuser in den Fraktionen zu besichtigen? Nein. Sie kommen um den unverwechselbaren urbanen Charakter Brixens zu erleben. Warum ist der unverwechselbar? Nicht nur wegen der historischen Gebäude der ältesten Stadt Südtirols sondern wegen ganz bestimmter Synergien der urbanen Funktionen, die sich am besten auf dem Domplatz unmittelbar erleben lassen.

Dort zieht sich eine unsichtbare aber deutlich spürbare Linie diagonal über den räumlich schönsten Stadtplatz Südtirols und trennt die alte Bürgerstadt von der alten Bischofstadt. Es ist aber keine Trennung sondern eine Unterscheidung von synergetisch wirkenden Funktionen: hier die lebhafte Bürgerstadt mit ihren Läden, ihrem Lärm, ihrem Betrieb, in den man gerne eintaucht um teilzunehmen, einzukaufen, sehen und gesehen werden, Menschen zu treffen. Dort die majestätische Bauten der Pfarrkirche, des Doms, der Hofburg mit ihrer Ruhe in die man in der Betrachtung ebenfalls gerät. Der materielle Einfluss der Bürgerstadt weicht den geistigen Strömungen der Bischofsstadt. Im Freiluftwohnzimmer der Brixner, dem Domplatz, trifft beides aufeinander, das aus sich Herausgehen und das in sich Einkehren. Es vermischt sich und erzeugt durch seine wechselnde Gegensätzlichkeit Synergien, die den Charakter, die Liebenswürdigkeit, die Urbanität dieser kleinen aber dadurch ganz besonderen Stadt ausmachen.

Um es zusammen zu fassen: man würde diesen Charakter der Stadt aus dem Gleichgewicht bringen, wenn man die Kontraste dieser Synergien vermischen würde – also etwa den Großen Graben mit Blumenbeeten gärtnerisch als Ruhezone zum Verweilen auszustatten oder eben den Hofburggarten zum Erlebnis- oder Lunapark mit dem heutigen Kasperletheater der Unterhaltungsindustrie umzuwandeln. Nein. Die Stärke der Synergien der Altstadt Brixen liegt in den beiden gegensätzlichen Funktionen der Geschäftigkeit im bürgerlichen und der Ruhe im geistigen Viertel. Niemand wird das mehr genießen als die Brixner selber. Aber auch deren Gäste werden diese Synergie als große Attraktion empfinden. Urban und doch laut und leise, geschäftig und besinnlich. Dazu muss der Hofgarten ein pomarium bleiben, für alle tagsüber offen, unauffällig beaufsichtigt, bei Anbruch der Dunkelheit geschlossen – wie der Herrengarten.

Wenn den Geschäftsleuten in der Bürgerstadt die Kunden fehlen, dann müssen sie die Ladenöffnungszeiten verändern. Welche Touristenstadt ist mittags drei Stunden halbtot und von Samstagmittag, wenn die Gäste mit vollem Portmonnaie anreisen bis Montagfrüh geschlossen? Am Sonntagabend die Gäste mit immer noch vollem Portmonnaie frustriert abfahren lassen? Das kann es nicht sein. Darüber lohnt es sich einmal nachzudenken, liebe Kaufleute!

Andreas Gottlieb Hempel
Brixen, 18.11.2010



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
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