Dienstag, 16.11.2010 | Dolomiten Baukultur Februar 2010 Blick über den Berg

Dolomiten

Baukultur Februar 2010

 

Blick über den Berg

 

Wer die bauliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte  in Südtirol verfolgt hat, dem wird bewusst, wie viel Substanz verloren gegangen ist. Es geht nicht nur um materielle Verluste – es geht auch um den Verlust von Geschichte, Identität und seelischem Reichtum, um den Verlust von Heimat. Wie wird dieses Problem anderswo gehandhabt? Wir blicken über den Berg ins Engadin.

 

Die Südtiroler sind bisweilen die Klassenbesten. Wahre Weltmeister sind sie jedoch beim Abbruch alter geschichtsträchtiger Gebäude. Für eine Handvoll Kubatur mehr verschwindet mit dem alten Haus auch ein Stück Selbstverständnis. Es weicht zumeist Allerweltsbauten im sogenannten alpinen Stil. Es könnte auch eine jener öden Gewerbekisten sein oder ein verkitschtes Jodelhotel, dass dem Gast falsche Eindrücke der authentischen Südtiroler Baukultur vermittelt. Selten findet man Selbstbescheidung auf das Vorhandene, dass man einer neuen Nutzung zuführen könnte ohne es gleich zu zerstören.

 

Wie ist das woanders?

 

Wie machen das unsere alpinen Nachbarn in vergleichbaren Fällen? Der erste Eindruck: auch nicht viel besser – jedenfalls in der großen Masse. Es gibt aber Ausnahmen, die eine beispielhafte Wirkung auf das Südtiroler Baugeschehen haben könnten. Dazu gehört das Engadin. Dort geht es mit den strengen Schweizer Baugesetzen nicht in erster Linie darum aus dem Bestand noch mehr Kubatur herauszuschinden sondern den Charakter der alten Engadiner Häuser und damit auch der Ortsbilder zu bewahren.

 

Der Wandel des Erwerbs von der Landwirtschaft zum Tourismus hat dazu beigetragen, dass viele der alten Bauernhöfe in den Engadiner Dörfern ihre Funktion verloren haben und zum Verfall oder Verkauf standen. Manch wohlhabender Städter hat die einmalige ästhetische Wucht der massiven Engadiner Höfe erkannt und sich eingekauft. Eine grundlegende Veränderung der streng strukturierten Gebäude in komfortable Wohnhäuser stand bevor und hätte dem Charakter dieser Häuser leicht den Garaus machen können, wenn sich nicht einige Architekten zu ihrer Verteidigung gefunden hätte. Unter ihnen auch Hans-Jörg Ruch, der seine Energie der sensiblen Sanierung, Renovierung und Umnutzung alter Engadiner Höfe widmet. Er hat seine Interventionen in einem bemerkenswerten Buch veröffentlicht – siehe nebenstehende Buchvorstellung.

 

Die Arbeitsweise des Architekten

 

Das systematische Vorgehen von Architekt Ruch ist bemerkenswert. Er nimmt sich viel Zeit um das Gebäude, dass er sanieren und umgestalten soll, in seinem Charakter, seiner Geschichte und seiner Baustruktur zu begreifen und in einer genauen Bauaufnahme zu analysieren. Zunächst wird das Haus von allen späteren Zutaten befreit, die sich im Laufe der wechselnden Benutzer mehr oder weniger passend angesammelt haben und oft das Alte, Echte oder gar die gesamte Struktur entstellend überdecken. Der Bau wird sozusagen freigeschält, sein Wesen klar herausgearbeitet. Oft werden dabei alte Fresken, schöne Täfelungen und anderes Verborgenes unter Putz, Verschalungen oder Zubauten entdeckt. Ist das erreicht, dann kann Hans-Jörg Ruch seine Bauherren leichter davon überzeugen, was das Haus an Neuem verträgt. Dabei geht es neben der Umnutzung der Räume auch um den Einbau von heutzutage notwenigem technischen Komfort, der das Haus weder entstellen noch überstrapazieren darf. In den massiven alten Bauten war zum Beispiel nur ein gemauerter Ofen vorhanden, der die Stube von der Küche aus heizte. Beeindruckend sind neben den Räumen für die Menschen die in den Hof eingegliederten Ställe und Scheunen, meist unter einem Dach, die mit ihrer Größe – der gesamte Wintervorrat wurde dort eingelagert – heute dazu verführen könnten, diese leere Kubatur mit zusätzlichen Wohnungen zu füllen. Ruch hat solchen Wünschen nie nachgegeben und seine Bauherren immer davon überzeugen können, diesen Raumluxus selber zu nutzen – teilweise sogar als Kunstgalerien engagierter Sammler.

 

Den Charakter des Hauses erhalten

 

Am wichtigsten ist es dem Architekten, die Typologie des Engadiner Haus zu respektieren. Ziel ist nicht ein entgültiger Umbau sondern ein weiterer Zustand, einer von vielen in der Geschichte des Hauses, dessen notwendige Interventionen ablesbar bleiben sollen. Das Entwerfen für die neue Nutzung beginnt also nicht bei null. Die Hauptsache, das alte Haus, ist schon da, von dem gelernt werden muss auf manche Wünsche zu verzichten um dafür einen emotionalen Mehrwert der Beständigkeit, der Atmosphäre, der fortgeführten Geschichte oder des üppigen Raumangebotes zu erhalten. Dazu gehören auch die Materialien. Imitierendes und Anpässlerisches wird aus dem Haus entfernt. Das Wegnehmen interessiert Bauherren und Architekt dabei mehr als das Hinzufügen – erst dann wird entschieden, was noch hinzukommen darf. So wird der Charakter der Engadiner Häuser in die neue Zeit hinübergerettet und die Dörfer nicht mit neuen Chalets verbaut.

 

Ein Beispiel, das auch in Südtirol Schule machen könnte: Erhalt und Umbau statt Abriss und Neubau. Weniger wäre dann mehr für die Identität und Authentizität unserer Region und könnte uns so manche Zersiedelung der Landschaft ersparen.

 

Andreas Gottlieb Hempel

 



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
Otto von Guggenberg Str. 46   I-39042 Brixen (BZ)   Italien
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