Dienstag, 16.11.2010 | Dolomiten Baukultur Juni 2010

Dolomiten Baukultur Juni 2010

Wohn Raum Alpen

So nennt sich eine sehenswerte Architektur-Wanderausstellung über zeitgenössische Wohnformen in den Alpen, die in den Räumen von kunst Meran noch bis zum 12. September zu sehen ist.

Die Alpen üben eine große Anziehungskraft aus –  durch die verkitschte Alm-Öhi-Romantik, als Sportarena oder Altersruhesitz für Betuchte. Wie lebt es sich aber wirklich für die Mehrzahl der 14 Mio. Menschen im Alpenraum von 190.000 qkm auf der knappen Fläche der engen Täler? Sie leben in acht Ländern mit 143 Städten und 6000 Gemeinden, müssen Jahr für Jahr 60 Millionen Touristen aufnehmen und zusehen bzw. zuhören, wie über 200.000 Tonnen Güter durch ihr Gebiet transportiert werden. „Was es wirklich bedeutet, in den Alpen zu leben, weiß nur wer dort wohnt.“ schreibt Loredana Ponticelli in ihrem Beitrag zum Katalog. Die Ausstellung versucht diese Lebensweise in heutiger Architektur verständlich zu machen.

Neue Wege der Annäherung

Über ein Viertel der Alpenbewohner leben heute in günstigen Tallagen, die städtische Siedlungen von 5.000 bis 100.000 Einwohnern ermöglichen. Diese Verstädterung ist das Ergebnis veränderter Wirtschaftsformen, die von der Landwirtschaft zu Gewerbe und Dienstleistungen geführt hat. Abgelegene Gebiete wurden für urbane Bereiche verlassen und Mobilität ermöglicht den ständigen Austausch von Arbeitskraft und Waren im Gegensatz zur früheren Selbstversorgung. So haben sich auch die Siedlungsformen verändert: Wenn der einzelne Hof nach dem Wunsch der Mehrheit am liebsten durch das freistehende Einfamilienhaus zu ersetzen wäre, so wird das durch den beschränkten und teuren Baugrund verhindert. Das weniger geschätzte Kondominium ist notgedrungen die Alternative und wohl auch die Wohnform der Zukunft im beengten Alpenraum. Leider wird immer noch Bauland auf Kosten landwirtschaftlicher Flächen ausgewiesen, statt Umnutzung vorhandener Bauflächen und Verdichtungen im Innenbereich vorzunehmen. Die Kuratoren der Ausstellung haben deshalb das Kondominium unterschiedlichster Nutzung ausgesucht um die Möglichkeiten dieser Form des Wohn Raum Alpen darzustellen.

Konzeption der Ausstellung

Um die „richtigen“ Projekte zu finden wurde mit 500 Architekturbüros im gesamten Alpenraum Kontakt aufgenommen und 200 geeignete Projekte gefunden, die den festgelegten Kriterien entsprachen: mind. fünf Wohneinheiten und Fertigstellung nach dem Jahr 2000. Aus dieser Menge wählten 16 Experten 37 Projekte aus, die in der Ausstellung und dem Katalog ausführlich dokumentiert sind. Dabei entschied man sich für den Fotografen Hartmut Nägele, der neben Abbildungen der Bauten auch den „genius loci“ und die Atmosphäre der Bewohner einfing – was die Bilder für Empfindsame besonders reizvoll macht. Genial ist auch die als Wanderausstellung konzipierte Ausstellungstechnik. Auf Holzkisten für den Versand sind die weißen Modelle der Projekte befestigt, zusammen mit Postkarten von weiteren Fotos um das Projekt, in denen der Besucher blättern kann. Die wichtigsten Fotos sind auf große Holzplatten gedruckt, die nach dem Abhängen zum weiteren Verschicken in die Holzkisten hineingeschoben werden können – ein leicht zu handhabendes Gesamtpaket! Ach ja – die Projekte werden nicht nach Ländern sondern nach Höhenlagen über dem Meeresspiegel geordnet, von 1822 m ü.NN. in St. Moritz hinab bis 40 m ü.NN. an der Côte d’Azur. Hat das was mit der Architektur oder nur mit der Wärmedämmung zu tun?

Kritische Betrachtung

Wer nun langsam durch die Ausstellung schlendert wird sehr nachdenklich. Er findet zum Teil sehr schöne moderne Architekturen vor, die neben ihrer Ästhetik auch Wohnformen anbieten, die dem modernen Leben entsprechen, das überwiegend nicht mehr von der Standard-Bauträger-Familie (Gutverdienende Eltern mit zwei glücklichen Kindern, also Punkt,Punkt, Komma,Strich-Grundrisse) geprägt wird. Wohnformen für Singles, Alleinerziehende, Wohngemeinschaften und Alte sind zu finden. Stellvertretend seien hier die Projekte Pflegeheim Bruneck, Altersheim Santa Rita, Mädcheninternat Disentis, Bebauung Weyarn, Wohnanlage Sebastianstraße in Dornbirn und das Arbeiterhaus in Siebeneich genannt. Was haben aber die gezeigten Projekte mit wenigen Ausnahmen nun mit den Alpen zu tun? Gerade wegen des geglückten fotografischen Einfangens manchen „genius loci“ im Umkreis der Projekte scheint die landschaftliche und bauliche Umgebung in den wenigsten Fällen eingehend von den Architekten analysiert worden zu sein. Vielmehr erhält man den Eindruck, dass die meisten Planer mit vorgefassten formalen Vorstellungen an ihre Aufgabe herangehen und das Flachdachergebnis dann bestenfalls „ortsgerecht“ mit einem Holzschindelmäntelchen behängen. Oder auf ihren wenig alpinen Brutalo-Beton stolz sind, der heute globalisiert überall zu finden ist. Das schlägt sich bisweilen auch sprachlich in den Projektbeschreibungen nieder. Etwa in solchem Architekten-Schwafel: „Die Formensprache des kompakten Wohnbaus leitet sich von der Umsetzung äußerst pragmatischer Parameter in ein räumlich einnehmendes Konzept ab.“ Hä?

Andreas Gottlieb Hempel



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Andreas Gottlieb Hempel
Prof. Dipl.-Ing. Architekt & Publizist
Otto von Guggenberg Str. 46   I-39042 Brixen (BZ)   Italien
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